Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Warum bei jedem achten Kind in Thüringen aus den ersten beiden Schuljahren drei werden
Josephine kam einige Wochen zu früh zur Welt und wurde als Sommerkind mit knapp sechs Jahren Erstklässlerin. Jetzt ist sie überfordert
Was bedeutet es für Kinder und ihre Eltern, wenn die Kleinen zu früh eingeschult werden und deswegen Probleme in der Schule haben? Eine Familie aus Südthüringen erfährt das gerade schmerzlich.
Die Worte, die in der Beurteilung des Mädchens – nennen wir sie Josephine – stehen, dröhnen wie Hammerschläge. Josephine sei eine „teils verschlossene Schülerin“, die nur wenig Kontakt zu ihren Mitschülern finde, steht dort. Ihre Lernpartner könnten ihr deshalb in der Schule auch kaum behilflich sein. Weiter unten steht, wozu das beiträgt: „Das Gehörte eigenständig bei verschiedenen Übungen umzusetzen, gelingt Josephine nicht immer.“Oder auch: „Das leise Mitlesen, wenn ihre Mitschüler an der Reihe sind, fällt Josephine schwer.“Oder auch: „Ernsthafte Probleme hatte Josephine beim schrittweisen Überschreiten der Zehner. Sie konnte die Einzelschritte nicht nachvollziehen und zog sich immer mehr zurück.“
Josephine ist noch keine acht Jahre alt. Über etwa eineinhalb dicht beschriebene Seiten wird ein Mädchen beschrieben, das mit der Schule offenkundig überfordert ist. Auch wenn sich dazwischen immer wieder Hinweise finden, dass Josephine durchaus gelungen ist, die ein oder andere Schwierigkeit zu überwinden, dass es nicht die mangelnde Unterstützung ihrer Eltern ist, die dazu führt, dass das Kind sich in der Schule so schwer tut. Zum Beispiel findet sich auch dieser Satz im bislang jüngsten Zeugnis von Josephine: „Sie vertieft den Lernstoff durch intensives häusliches Wiederholen.“Genutzt hat auch das am Ende ziemlich wenig. Seit ein paar Tagen ist klar, dass Josephine die zweite Klasse der Grundschule noch einmal wiederholen wird. Eine wirkliche Überraschung ist das für ihre Eltern nicht. In gewisser Weise haben sie es erwartet, ja sogar vorausgesagt. Und deshalb sind sie nicht nur fassungslos, sondern wütend. Ihre Bedenken gegen die Einschulung von Josephine waren in der Vergangenheit einfach weggewischt worden. Sogar jetzt noch wird im Grundsatz argumentiert, die frühe Einschulung des Mädchens sei richtig gewesen.
Josephine ist ein sogenanntes Sommerkind, nur wenige Tage vor dem Stichtag geboren. Nach Angaben ihrer Mutter erblickte das Mädchen 2011 drei Wochen früher als errechnet das Licht der Welt. Das heißt: Der eigentliche Geburtstermin hätte deutlich hinter dem Stichtag gelegen und Josephine wäre nicht zum 1. August 2017, sondern ein Jahr später eingeschult worden. So aber wurde das Mädchen mit dem Schuljahr 2017/18 in eine Grundschule in Südthüringen eingeschult. Die Eltern wollten das zwar nicht, trauten sich aber auch nicht, gegen die Entscheidung des zuständigen Schulleiters und die Einschätzung der zuständigen Amtsärztin zu klagen. Anders, als die Mutter aus dem Wartburgkreis, Marie-Luise Otto, die seit Monaten darum kämpft, dass ihr Sohn – auch ein Sommerkind – nicht schon mit diesem, sondern erst im nächsten Schuljahr schulpflichtig wird (wir berichteten). Wie die Eltern von Josephine damals hält auch Otto ihr Kind für noch nicht so weit, dass es schon die Schule besuchen kann. Die Schulleiterin des Jungen sieht das anders. Die Wahrscheinlichkeit ist inzwischen hoch, dass demnächst ein Gericht wird entscheiden müssen, welche Sicht der Dinge sich durchsetzen wird.
In dieser inzwischen weithin öffentlichen Auseinandersetzung gehören die Eltern von Josephine zu denen, die Otto in ihrer Haltung vorbehaltlos bestärken. Viele Eltern von Sommerkindern haben das in den vergangenen Wochen getan, nachdem Otto eine – letztlich erfolglose – Petition beim Thüringer Landtag eingereicht hatte, mit der sie erreichen wollte, dass die starre Stichtagsregelung in Thüringen fällt. In zahlreichen Online-Kommentaren unter der Petition und auch einigen persönlichen Gesprächen haben sie Otto Mut gemacht, weil sie oft selbst Sommerkinder haben, die schon in der Grundschule Probleme hatten. Viele Eltern führen das vor allem auf die mutmaßlich zu frühe Einschulung zurück. Die Eltern von Josephine machen der Klassenlehrerin ihres Kindes keinen Vorwurf, dass das Kind in der Schule nicht mitkommt. „Die Klassenlehrerin ist super, da gibt es gar nichts zu meckern“, sagt Josephines Vater. Ohnehin, das sagt auch ihre Mutter, gehe ihre Tochter trotz all des Ärgers mit dem Stoff „gerne in die Schule“.
Immer und immer wieder kommen die Eltern im Gespräch darauf zurück, dass das Kind aus ihrer Sicht bei der Einschulung einfach noch nicht alt genug war, um im Schulalltag zu bestehen; und heute in einer zweiten Grundschulklasse überfordert ist. „Unser Kind hat auch manchmal schon Einsen geschrieben“, sagt ihre Mutter. „Und dann weiß sie mal von genau dem Stoff gar nichts mehr.“Auch dann nicht, wenn sie mit ihrem Kind zu Hause teilweise stundenlang Hausaufgaben gemacht und den Stoff wiederholt habe. Was auch für sie als Mutter alles andere als ein Vergnügen gewesen sei. Auf die Frage, wie sie als Mutter die bisherige Schulzeit erlebt habe, sagt sie ohne zu zögern: „Stress. Ich fand das voll stressig.“
Zu diesem Stress hat nach Angaben der Eltern auch maßgeblich beigetragen, dass sie mit Josephine seit der Einschulung von einem Hilfsangebot zu nächsten fahren, um ihre mutmaßlich altersbedingten Defizite ausgleichen zu können. Ärzte, Psychologen, Ergotherapeuten, teilweise jenseits der thüringischen Landesgrenze – weil im Freistaat keine zeitnahen Termine zu bekommen waren – sucht die Familie seit weit mehr als einem Jahr regelmäßig auf. Das kostet viel Zeit. Und brachte eher mäßigen Erfolg. Wer immer könne, sagen Josephines Eltern, solle seinen Kindern vergleichbare Erfahrungen ersparen.
Die Eltern von Josephine vertreten damit ebenso wie viele andere Eltern jene pädagogische Haltung, die auch Otto vertritt – und die in krassem Widerspruch zu den pädagogischen Ideen stehen, hinter der sich viele Vertreter des staatlichen Schulwesens in Thüringen versammeln. Nach Meinung dieser Eltern muss ein Kind „schulreif“sein, um eingeschult werden zu können. Und es sollte im Fall von Sommerkindern noch ein Jahr im Kindergarten bleiben dürfen, wenn es zum Einschulungstermin noch nicht schulreif ist.
Auf staatlicher Seite wird dagegen im Kern darauf verwiesen, dass es schon seit 2003 in Thüringen eine sogenannte Schuleingangsphase gibt, die es Kindern ermöglichen soll, bis zum Beginn der dritten Klasse schulreif zu sein. Kinder, bei denen das innerhalb von zwei Schuljahren nicht gelingt, können die Schuleingangsphase in drei Jahren machen. Was Pädagogen als „Verlängerung“der Schuleingangsphase bezeichnen, ist bei Eltern und Schülern dagegen als „Sitzenbleiben“verschrien. Auch der Direktor von Josephines Grundschule verteidigt dieses Konzept und sagt, es gebe heute kaum noch ein einheitliches Leistungsniveau bei den Kleinen, sodass dieses erst in der Schule hergestellt werden müsse. „Die Schuleingangsphase funktioniert.“Wirklich? Tatsächlich kommt es in Thüringen nicht selten vor, dass Grundschulkinder drei statt zwei Jahre brauchen, um die ersten beiden Klassenstufen zu bewältigen. Nachdem es aus dem Bildungsministerium des Freistaats noch vor wenigen Wochen hieß, von der Möglichkeit der Verlängerung der Schuleingangsphase werde nur sehr selten Gebrauch gemacht, klingt das nach einem Blick in die Statistik inzwischen ganz anders. Seit dem Schuljahr 2014/15 brauchten jährlich etwa 12 bis 13 Prozent der Grundschüler drei statt zwei Jahre, um die Schuleingangsphase erfolgreich zu beenden, sagt ein Sprecher des Ministeriums nun. Und er nennt das selbst „eine nicht geringe Anzahl an Schülerinnen und Schülern“. Das heißt: „Durchschnittlich jedes achte Kind in Thüringen verlängert den Besuch der Schuleingangsphase um ein drittes Jahr“, sagt er. Dabei gebe es „natürlich regionale Unterschiede“.
Von diesen regionalen Unterschieden berichten indirekt auch die Eltern von Josephine. In der zweiten Klasse, die ihre Tochter besuche, gebe es mindestens sechs Kinder, bei denen schon feststehe, dass sie ein drittes Jahr bräuchten, um den Stoff der ersten beiden zwei Grundschuljahre zu schaffen; Josephine eingerechnet. Bei 24 Kindern in der Klasse insgesamt. Das bedeutet, dass dort nicht jedes achte, sondern jedes vierte Kind mit unterschiedlichen Lernschwierigkeiten kämpft. Der Direktor der Grundschule will diese Angaben mit Blick auf den Datenschutz weder bestätigen noch dementieren. Selbst wenn die hohe Zahl der Verlängerer in der Klasse von Josephine thüringenweit betrachtet die Ausnahme und nicht die Regel sein sollten, stellt sich die Frage, ob die Thüringer Schuleingangsphase tatsächlich funktioniert?
Von Anfang an Bedenken auf der Elternseite
Überforderung des Kindes wird deutlich
Der Streit um den Sinn der Eingangsphase
Aus Sicht der staatlichen Pädagogen: Ja, weil es ein Ausweis dafür ist, dass Schüler schulisch tatsächlich dort abgeholt werden, wo sie stehen und es für sie keinen Druck gibt, nach zwei Jahren mit dem Stoff aus zwei Jahren fertig zu sein. „Mit der Schuleingangsphase wird auf die wachsende Heterogenität der Schülerschaft bereits zu Schulbeginn reagiert und für jedes Kind ein altersgerechter Schulbeginn ermöglicht“, sagt der Sprecher des Ministeriums.
Aus Sicht vieler Eltern besonders von Sommerkindern: Nein, weil es aus ihrer Sicht keine Notwendigkeit gibt, Kinder, die mutmaßlich noch nicht reif genug, weil zu jung für die Schule sind, in den doch verhältnismäßig starren Schulalltag zu pressen. Würde man noch ein Jahr mit ihrer Einschulung warten, würden die meisten von ihnen den Stoff auch in zwei Jahren schaffen, argumentieren sie. „Man nimmt den Kindern so ein ganzes Jahr, in dem sie wirklich noch mal Kind sein könnten“, sagt Josephines Vater. Dieses Jahr vor der Schule bekämen sie nie wieder, während „der Ernst des Lebens“sie noch früh genug ereilen werde. Mit Blick auf seine Tochter sagt Josephines Vater: „Es wäre schöner gewesen, sie hätte noch ein Jahr Kind sein dürfen.“Doch dafür ist es in ihrem Fall zu spät.