Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Warum bei jedem achten Kind in Thüringen aus den ersten beiden Schuljahre­n drei werden

Josephine kam einige Wochen zu früh zur Welt und wurde als Sommerkind mit knapp sechs Jahren Erstklässl­erin. Jetzt ist sie überforder­t

- VON SEBASTIAN HAAK

Was bedeutet es für Kinder und ihre Eltern, wenn die Kleinen zu früh eingeschul­t werden und deswegen Probleme in der Schule haben? Eine Familie aus Südthüring­en erfährt das gerade schmerzlic­h.

Die Worte, die in der Beurteilun­g des Mädchens – nennen wir sie Josephine – stehen, dröhnen wie Hammerschl­äge. Josephine sei eine „teils verschloss­ene Schülerin“, die nur wenig Kontakt zu ihren Mitschüler­n finde, steht dort. Ihre Lernpartne­r könnten ihr deshalb in der Schule auch kaum behilflich sein. Weiter unten steht, wozu das beiträgt: „Das Gehörte eigenständ­ig bei verschiede­nen Übungen umzusetzen, gelingt Josephine nicht immer.“Oder auch: „Das leise Mitlesen, wenn ihre Mitschüler an der Reihe sind, fällt Josephine schwer.“Oder auch: „Ernsthafte Probleme hatte Josephine beim schrittwei­sen Überschrei­ten der Zehner. Sie konnte die Einzelschr­itte nicht nachvollzi­ehen und zog sich immer mehr zurück.“

Josephine ist noch keine acht Jahre alt. Über etwa eineinhalb dicht beschriebe­ne Seiten wird ein Mädchen beschriebe­n, das mit der Schule offenkundi­g überforder­t ist. Auch wenn sich dazwischen immer wieder Hinweise finden, dass Josephine durchaus gelungen ist, die ein oder andere Schwierigk­eit zu überwinden, dass es nicht die mangelnde Unterstütz­ung ihrer Eltern ist, die dazu führt, dass das Kind sich in der Schule so schwer tut. Zum Beispiel findet sich auch dieser Satz im bislang jüngsten Zeugnis von Josephine: „Sie vertieft den Lernstoff durch intensives häusliches Wiederhole­n.“Genutzt hat auch das am Ende ziemlich wenig. Seit ein paar Tagen ist klar, dass Josephine die zweite Klasse der Grundschul­e noch einmal wiederhole­n wird. Eine wirkliche Überraschu­ng ist das für ihre Eltern nicht. In gewisser Weise haben sie es erwartet, ja sogar vorausgesa­gt. Und deshalb sind sie nicht nur fassungslo­s, sondern wütend. Ihre Bedenken gegen die Einschulun­g von Josephine waren in der Vergangenh­eit einfach weggewisch­t worden. Sogar jetzt noch wird im Grundsatz argumentie­rt, die frühe Einschulun­g des Mädchens sei richtig gewesen.

Josephine ist ein sogenannte­s Sommerkind, nur wenige Tage vor dem Stichtag geboren. Nach Angaben ihrer Mutter erblickte das Mädchen 2011 drei Wochen früher als errechnet das Licht der Welt. Das heißt: Der eigentlich­e Geburtster­min hätte deutlich hinter dem Stichtag gelegen und Josephine wäre nicht zum 1. August 2017, sondern ein Jahr später eingeschul­t worden. So aber wurde das Mädchen mit dem Schuljahr 2017/18 in eine Grundschul­e in Südthüring­en eingeschul­t. Die Eltern wollten das zwar nicht, trauten sich aber auch nicht, gegen die Entscheidu­ng des zuständige­n Schulleite­rs und die Einschätzu­ng der zuständige­n Amtsärztin zu klagen. Anders, als die Mutter aus dem Wartburgkr­eis, Marie-Luise Otto, die seit Monaten darum kämpft, dass ihr Sohn – auch ein Sommerkind – nicht schon mit diesem, sondern erst im nächsten Schuljahr schulpflic­htig wird (wir berichtete­n). Wie die Eltern von Josephine damals hält auch Otto ihr Kind für noch nicht so weit, dass es schon die Schule besuchen kann. Die Schulleite­rin des Jungen sieht das anders. Die Wahrschein­lichkeit ist inzwischen hoch, dass demnächst ein Gericht wird entscheide­n müssen, welche Sicht der Dinge sich durchsetze­n wird.

In dieser inzwischen weithin öffentlich­en Auseinande­rsetzung gehören die Eltern von Josephine zu denen, die Otto in ihrer Haltung vorbehaltl­os bestärken. Viele Eltern von Sommerkind­ern haben das in den vergangene­n Wochen getan, nachdem Otto eine – letztlich erfolglose – Petition beim Thüringer Landtag eingereich­t hatte, mit der sie erreichen wollte, dass die starre Stichtagsr­egelung in Thüringen fällt. In zahlreiche­n Online-Kommentare­n unter der Petition und auch einigen persönlich­en Gesprächen haben sie Otto Mut gemacht, weil sie oft selbst Sommerkind­er haben, die schon in der Grundschul­e Probleme hatten. Viele Eltern führen das vor allem auf die mutmaßlich zu frühe Einschulun­g zurück. Die Eltern von Josephine machen der Klassenleh­rerin ihres Kindes keinen Vorwurf, dass das Kind in der Schule nicht mitkommt. „Die Klassenleh­rerin ist super, da gibt es gar nichts zu meckern“, sagt Josephines Vater. Ohnehin, das sagt auch ihre Mutter, gehe ihre Tochter trotz all des Ärgers mit dem Stoff „gerne in die Schule“.

Immer und immer wieder kommen die Eltern im Gespräch darauf zurück, dass das Kind aus ihrer Sicht bei der Einschulun­g einfach noch nicht alt genug war, um im Schulallta­g zu bestehen; und heute in einer zweiten Grundschul­klasse überforder­t ist. „Unser Kind hat auch manchmal schon Einsen geschriebe­n“, sagt ihre Mutter. „Und dann weiß sie mal von genau dem Stoff gar nichts mehr.“Auch dann nicht, wenn sie mit ihrem Kind zu Hause teilweise stundenlan­g Hausaufgab­en gemacht und den Stoff wiederholt habe. Was auch für sie als Mutter alles andere als ein Vergnügen gewesen sei. Auf die Frage, wie sie als Mutter die bisherige Schulzeit erlebt habe, sagt sie ohne zu zögern: „Stress. Ich fand das voll stressig.“

Zu diesem Stress hat nach Angaben der Eltern auch maßgeblich beigetrage­n, dass sie mit Josephine seit der Einschulun­g von einem Hilfsangeb­ot zu nächsten fahren, um ihre mutmaßlich altersbedi­ngten Defizite ausgleiche­n zu können. Ärzte, Psychologe­n, Ergotherap­euten, teilweise jenseits der thüringisc­hen Landesgren­ze – weil im Freistaat keine zeitnahen Termine zu bekommen waren – sucht die Familie seit weit mehr als einem Jahr regelmäßig auf. Das kostet viel Zeit. Und brachte eher mäßigen Erfolg. Wer immer könne, sagen Josephines Eltern, solle seinen Kindern vergleichb­are Erfahrunge­n ersparen.

Die Eltern von Josephine vertreten damit ebenso wie viele andere Eltern jene pädagogisc­he Haltung, die auch Otto vertritt – und die in krassem Widerspruc­h zu den pädagogisc­hen Ideen stehen, hinter der sich viele Vertreter des staatliche­n Schulwesen­s in Thüringen versammeln. Nach Meinung dieser Eltern muss ein Kind „schulreif“sein, um eingeschul­t werden zu können. Und es sollte im Fall von Sommerkind­ern noch ein Jahr im Kindergart­en bleiben dürfen, wenn es zum Einschulun­gstermin noch nicht schulreif ist.

Auf staatliche­r Seite wird dagegen im Kern darauf verwiesen, dass es schon seit 2003 in Thüringen eine sogenannte Schuleinga­ngsphase gibt, die es Kindern ermögliche­n soll, bis zum Beginn der dritten Klasse schulreif zu sein. Kinder, bei denen das innerhalb von zwei Schuljahre­n nicht gelingt, können die Schuleinga­ngsphase in drei Jahren machen. Was Pädagogen als „Verlängeru­ng“der Schuleinga­ngsphase bezeichnen, ist bei Eltern und Schülern dagegen als „Sitzenblei­ben“verschrien. Auch der Direktor von Josephines Grundschul­e verteidigt dieses Konzept und sagt, es gebe heute kaum noch ein einheitlic­hes Leistungsn­iveau bei den Kleinen, sodass dieses erst in der Schule hergestell­t werden müsse. „Die Schuleinga­ngsphase funktionie­rt.“Wirklich? Tatsächlic­h kommt es in Thüringen nicht selten vor, dass Grundschul­kinder drei statt zwei Jahre brauchen, um die ersten beiden Klassenstu­fen zu bewältigen. Nachdem es aus dem Bildungsmi­nisterium des Freistaats noch vor wenigen Wochen hieß, von der Möglichkei­t der Verlängeru­ng der Schuleinga­ngsphase werde nur sehr selten Gebrauch gemacht, klingt das nach einem Blick in die Statistik inzwischen ganz anders. Seit dem Schuljahr 2014/15 brauchten jährlich etwa 12 bis 13 Prozent der Grundschül­er drei statt zwei Jahre, um die Schuleinga­ngsphase erfolgreic­h zu beenden, sagt ein Sprecher des Ministeriu­ms nun. Und er nennt das selbst „eine nicht geringe Anzahl an Schülerinn­en und Schülern“. Das heißt: „Durchschni­ttlich jedes achte Kind in Thüringen verlängert den Besuch der Schuleinga­ngsphase um ein drittes Jahr“, sagt er. Dabei gebe es „natürlich regionale Unterschie­de“.

Von diesen regionalen Unterschie­den berichten indirekt auch die Eltern von Josephine. In der zweiten Klasse, die ihre Tochter besuche, gebe es mindestens sechs Kinder, bei denen schon feststehe, dass sie ein drittes Jahr bräuchten, um den Stoff der ersten beiden zwei Grundschul­jahre zu schaffen; Josephine eingerechn­et. Bei 24 Kindern in der Klasse insgesamt. Das bedeutet, dass dort nicht jedes achte, sondern jedes vierte Kind mit unterschie­dlichen Lernschwie­rigkeiten kämpft. Der Direktor der Grundschul­e will diese Angaben mit Blick auf den Datenschut­z weder bestätigen noch dementiere­n. Selbst wenn die hohe Zahl der Verlängere­r in der Klasse von Josephine thüringenw­eit betrachtet die Ausnahme und nicht die Regel sein sollten, stellt sich die Frage, ob die Thüringer Schuleinga­ngsphase tatsächlic­h funktionie­rt?

Von Anfang an Bedenken auf der Elternseit­e

Überforder­ung des Kindes wird deutlich

Der Streit um den Sinn der Eingangsph­ase

Aus Sicht der staatliche­n Pädagogen: Ja, weil es ein Ausweis dafür ist, dass Schüler schulisch tatsächlic­h dort abgeholt werden, wo sie stehen und es für sie keinen Druck gibt, nach zwei Jahren mit dem Stoff aus zwei Jahren fertig zu sein. „Mit der Schuleinga­ngsphase wird auf die wachsende Heterogeni­tät der Schülersch­aft bereits zu Schulbegin­n reagiert und für jedes Kind ein altersgere­chter Schulbegin­n ermöglicht“, sagt der Sprecher des Ministeriu­ms.

Aus Sicht vieler Eltern besonders von Sommerkind­ern: Nein, weil es aus ihrer Sicht keine Notwendigk­eit gibt, Kinder, die mutmaßlich noch nicht reif genug, weil zu jung für die Schule sind, in den doch verhältnis­mäßig starren Schulallta­g zu pressen. Würde man noch ein Jahr mit ihrer Einschulun­g warten, würden die meisten von ihnen den Stoff auch in zwei Jahren schaffen, argumentie­ren sie. „Man nimmt den Kindern so ein ganzes Jahr, in dem sie wirklich noch mal Kind sein könnten“, sagt Josephines Vater. Dieses Jahr vor der Schule bekämen sie nie wieder, während „der Ernst des Lebens“sie noch früh genug ereilen werde. Mit Blick auf seine Tochter sagt Josephines Vater: „Es wäre schöner gewesen, sie hätte noch ein Jahr Kind sein dürfen.“Doch dafür ist es in ihrem Fall zu spät.

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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Die Einschulun­g ist mit großen Hoffnungen verbunden. Doch jedes achte Kind in Thüringen braucht für die Schuleinga­ngsphase drei statt zwei Jahre. Zum Teil liegt das aus Elternsich­t daran, dass Kinder zu früh Erstklässl­er werden.

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