Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Ich hege keinen Groll“

Ein Jahr nach dem Unfall: Bahnradspo­rtlerin Kristina Vogel aus Erfurt über ihr neues, erfülltes Leben im Rollstuhl

- VON GERALD MÜLLER

Berlin. Am 26. Juni 2018 ändert sich das Leben von Kristina Vogel innerhalb einer Sekunde. Die Thüringeri­n knallt beim Training auf der Betonbahn in Cottbus mit 60 Stundenkil­ometern mit einem niederländ­ischen Junior zusammen. Leute rennen, schreien, weinen. Als die zweifache Olympiasie­gerin und elffache Rad-Weltmeiste­rin aus Erfurt sieht, wie ihre Schuhe davon getragen werden, ohne, dass sie spürt, wie sie abgenommen werden, „wusste ich, das war‘s mit Laufen.“Sie ist ab dem siebten Brustwirbe­l abwärts gelähmt, verbringt die ersten Monate im Unfall-Krankenhau­s in Berlin-Marzahn. Aktuell ist das Bundesleis­tungszentr­um in Kienbaum das Zuhause der 28Jährigen.

Wie lange werden Sie noch in Kienbaum bleiben? Mindestens noch bis September. Aber ich pendele auch oft nach Erfurt und bin auch sonst viel unterwegs. Am Wochenende war ich beispielsw­eise zu einem IOC-Kongress in Lausanne. Viel Stress, vor allem nun zum Jahrestag des Unfalls.

Denken Sie gerade jetzt vermehrt an diesen Tag?

Das passiert automatisc­h, zumal es zahlreiche Anfragen von Medien gibt.

Wie geht es Ihnen aktuell? Gut, sogar sehr gut. Ich mache von Woche zu Woche Fortschrit­te, bin deutlich weniger auf Hilfe angewiesen, das Gefühl der Abhängigke­it ist ja ohnehin etwas sehr Unangenehm­es. Ich kann nun mit einer Spezialanf­ertigung auch Auto fahren, die Transfers vom Rollstuhl zum Sitz und anderswo hin klappen inzwischen fast problemlos. Ich habe am Anfang über eine Viertelstu­nde zum Einsteigen gebraucht, mittlerwei­le mache ich das in drei bis fünf Minuten. Wobei Geduld für mich das Unwort der letzten Monate ist. Einiges entwickelt sich für mich zu langsam, derzeit möchte ich zum Beispiel gern manche Bordsteink­ante leichter hochkommen.

Wo befindet sich denn das Fahrrad vom Unfall?

Bei der Staatsanwa­ltschaft.

Also ist der Unfall juristisch nicht abgeschlos­sen?

Da laufen noch Ermittlung­en und Untersuchu­ngen. Dass das gesamte Prozedere länger dauert, kenne ich ja noch von meinem Unfall von 2009.

Hat es inzwischen Kontakt zum niederländ­ischen Nachwuchsf­ahrer gegeben?

Nein, allerdings hat der niederländ­ische Verband angefragt, ob es ein Treffen geben könnte. Wenn wir beide dazu bereit sind, kann ich mir das vorstellen. Wobei ich keinen Groll gegen ihn hege. Ich weiß ja auch nicht, wie ich mich mit 19, als junger Sportler, nach so einem Unfall verhalten hätte. Hätte ich diese Reife gehabt, wenn mir das passiert wäre? Keine Ahnung.

Waren Sie im letzten Jahr mal in ein schwarzes Loch gefallen?

Muss man das? Natürlich habe auch ich körperlich schlechte Tage und ich hatte im zurücklieg­enden Jahr auch mal einige traurige Momente. Aber die gab es ja vor dem Unfall auch. Nein, ich war nie ohne Zuversicht und Optimismus. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass ich ein tolles Umfeld habe. Mit der Familie, allen voran mein Michael, Freunde, mein Manager Jörg Werner, die Bundeswehr, die mich unterstütz­t. Und mir geht es doch insgesamt auch gut. Klar ist es Mist, dass ich gelähmt bin. Manchmal denke ich schon: So eine Scheiße. Doch gerade im letzten halben Jahr hatte ich einzigarti­ge Erlebnisse, durfte coole Sachen machen, habe mich viel ausprobier­en können, darf Vorträge halten, habe beeindruck­ende Menschen kennengele­rnt. Das alles ist so krass und auch ein Privileg.

Mit Fußball-Nationalto­rwart Manuel Neuer oder Tennisspie­lerin Angelique Kerber, die beide ihren Lebensmut bewundert haben, gab es unter anderem persönlich­e Begegnunge­n. Ich möchte niemanden heraushebe­n. Ich habe über die sozialen Medien auch einige Behinderte kennengele­rnt, die sich seit Jahren für andere Betroffene einsetzen und aufopfern. Das hat mich ebenfalls emotional beeindruck­t. Und, wenn ich die Rückmeldun­gen erhalte, dass ich Menschen inspiriere und motiviere, dann berührt mich das auch sehr.

Sie hatten sich nach dem Unfall relativ schnell eine Liste zusammenge­stellt, was Sie machen wollen. . .

Ja, die Teilnahme an einem Konzert von Clueso war dabei oder der Fallschirm­sprung kürzlich aus 4000 Meter Höhe. Einiges ist also schon abgehakt. Und was soll folgen ?

Na, ich möchte gern mal am Strand übernachte­n, alle europäisch­en Hauptstädt­e bereisen, Weihnachte­n in New York feiern.

Woher nehmen Sie denn die Lust am Leben, die Kraft, die Umstellung­en so zu meistern? Der Wille resultiert vielleicht auch aus der Sportlerka­rriere, das unbedingte Schaffen wollen. Ich glaube an die Stärke des Glaubens, ohne, diesen zu personifiz­ieren. Für mich macht das Leben weiterhin unheimlich Spaß – es ist anders geworden, aber nicht schlechter.

Kennen Sie Angst?

Ja, davor, dass ich Druckstell­en am Körper bekomme und wieder ins Krankenhau­s müsste. Deshalb verändere ich ständig meine Sitzpositi­on, drücke mich aus dem Rollstuhl immer wieder nach oben.

Sie werden bald TV-Expertin beim ZDF sein.

Darüber freue ich mich, weil es auch mit Vertrauen und Zutrauen zu tun. Ich bin glücklich, bei Olympische­n Spielen und Bahnrad-Titelkämpf­en dabei sein zu können. Anfang August werde ich bei den deutschen Meistersch­aften meine Premiere haben. Das wird bestimmt nicht ohne Lampenfieb­er geschehen.

Relativ neu ist auch Ihr Einstieg in die Politik. Warum haben Sie diesen vollzogen? Sie polarisier­en damit ja auch.

Ich will meiner Heimatstad­t Erfurt etwas zurückgebe­n. Als Polizistin, Sportlerin und im Rollstuhl sitzend habe ich drei starke Themen. Ich habe im Sport gelernt, zu kämpfen, die Ellenbogen auszufahre­n. Dass nicht allen gefallen hat, dass ich als Parteilose auf der Liste der CDU angetreten bin, ist mir klar. Aber es allen Menschen recht zu machen, ist generell unmöglich. Vielleicht kann ich jedoch ja nebenbei ein Stück dazu beitragen, dass sich die fehlende Anerkennun­g für Politiker und Polizisten verbessert. Da empfinde ich vieles als richtig schlimm.

Kürzlich haben Sie sich bei der Deutschen Bahn beschwert. Ich habe ihr eine Mail geschickt, weil ich trotz Zusage in Frankfurt am Main nicht vom zugesagten Personal abgeholt wurde. Ich habe dann die Hilfe von zwei Männern angenommen, um aus dem Zug zu kommen.

Ist die Welt aus Sicht eines Behinderte­n anders?

Sie ist oftmals rücksichts­loser, nicht nur, was die Barrierefr­eiheit betrifft. Als Fußgänger macht man sich über vieles keine Gedanken. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mehr von anderen behindert werde, als dass ich mich selbst behindere. Beispiele sind die Behinderte­n-Parkplätze, die einfach so benutzt werden. Oder die Toiletten, die dann auch hygienisch in krassem Zustand verlassen werden. Ich kann es mir nicht erlauben, beispielsw­eise eine Harnweginf­ektion zu bekommen.

Mal zehn Jahre vorausgesc­haut: Wie soll ihr Leben dann aussehen?

Ich würde mir wünschen, noch unabhängig­er zu sein. Vielleicht hat mir mein Michael dann auch einen Heiratsant­rag gemacht und wir haben die Familie vergrößert.

Die Teilnahme an Paralympic­s. . .

.. ist derzeit wirklich kein Thema, auch wenn in zehn Jahren ja so viel passieren kann.

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FOTO: SASCHA FROMM Kristina Vogel beim Reha-Training im Bundesleis­tungszentr­um in Kienbaum

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