Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Auf den Spuren von Jatta und Klose
In der Schweiz war 2016 gerade der Winter angebrochen. Ibrahima Bignet Cissé, Flüchtling aus Guinea und damals 16 Jahre alt, stand in Badelatschen, kurzer Hose und Juventus-Turin-Trikot da, etwas anderes hatte er nicht dabei. Schon fast ein Jahr war er auf der Flucht, nachdem sein Vater von einer anderen Familie wegen eines Missverständnisses ermordet wurde. Seine Mutter hatte Angst, dass auch das Leben ihres Sohnes in Gefahr sein könnte, und schickte ihn fort.
Mit derselben Dringlichkeit, mit der es Cissé auf seiner Flucht aus einem libyschen Gefängnis und übers Mittelmeer geschafft hatte, schaffte er es schließlich nach Deutschland. Und mit derselben Dringlichkeit gelang es ihm, sich hier zu integrieren. Er lernte Deutsch, schaffte gut ein Jahr nach seiner Ankunft in Erfurt den Hauptschulabschluss und kann jetzt, mit der Hälfte seines Lehrlingsgehalts, das ihm seine Ausbildung zum Verfahrensmechaniker einbringt, seine Familie in Guinea unterstützen.
Das große Ziel des schmächtigen, aber sehr begabten Offensivspielers des Thüringenligisten FC An der Fahner Höhe ist und bleibt es aber, eines Tages Profifußballer zu werden. „Ich setze mich sehr unter Druck, um es so schnell wie möglich zu schaffen und meiner Familie noch mehr zu helfen“, sagt er.
Wenn man Cissé und seine Geschichte kennt, versteht man besser, dass der Sport, in seinem Fall der Fußball, für Flüchtlinge mehr ist als die schönste Nebensache der Welt. Dass er ihnen ein anderes Leben verspricht als jenes, das sie in ihren meist von Krieg und Aufruhr beherrschten Heimatländern kennengelernt haben. Dass sie alles daran setzen, um die Chance darauf, so schwierig sie auch zu erreichen scheint, zu nutzen. Migranten im Sport haben in unserer demokratischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Ob Profisportler mit Elternteilen aus anderen Herkunftsländern – etwa die FußballWeltmeister Jérôme Boateng, Sami Khedira und Mesut Özil, oder Bob-Pilotin Mariama Jamanka, erste dunkelhäutige deutsche Olympiasiegerin in einer Wintersportart. Ob junge Menschen, die wie Cissé Tausende von Kilometern geflohen sind, um hier Sicherheit und eine neue Heimat zu finden. Bei der Integration hilft ihnen häufig der Sport – und sie helfen ihren neuen Vereinen dabei, überhaupt weiter zu existieren. „Ohne Flüchtlinge gäbe es viele Mannschaften nicht mehr“, erkannte der Erfurter A-Juniorentrainer Mirko Spangenberg unlängst. Der Fußball in Thüringen ist ein Migrantensport, so wie er es auch in Deutschland ist und immer war. Mit Walther Bensemann war ironischerweise ein Jude einer der wichtigsten Pioniere des Fußballs in Deutschland. Zu Zeiten der Weimarer Republik prägten Industriearbeiter, viele von ihnen polnischsprachige Migranten, den Vereinsfußball. Von der dunklen Epoche der Nazis, die mit Julius Hirsch sogar einen jüdischen Nationalspieler in Auschwitz ermordeten, erholte sich der Fußball dann nur langsam. Noch 1960 durfte der erste türkische Vertragsspieler in Deutschland, Cokun Ta, nicht am Endspiel um die deutsche Meisterschaft für seinen 1. FC Köln teilnehmen. Hier waren noch immer nur Deutsche erlaubt.
Mit der Professionalisierung des Fußballs durch die Einführung der Bundesliga 1963 änderte sich das rasch. 30 Jahre später war fast jeder vierte Bundesliga-Fußballer Ausländer. In der Saison 2008/09 war es erstmals mehr als jeder Zweite.
Der Beginn des neuen Jahrtausends markierte auch in der deutschen Nationalmannschaft ein multikulturelles Zeitalter: Mustapha Doan wurde 2001 der erste Nationalspieler mit türkischen Wurzeln, im selben Jahr bestritt Miroslav Klose, geboren im polnischen Opole, sein erstes Länderspiel für Deutschland. 13 Jahre und 137 Länderspiele später trat er mit 71 Treffern als deutscher Rekordtorschütze aus der Nationalelf zurück. So wie jede Epoche zuvor, haben auch die Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts ihre kulturellen Besonderheiten. Nun sind es die Flüchtlinge, die das Fußballspielen bundesweit mitprägen.
Flüchtlinge wie Ibrahima Bignet Cissé. Sein erstes Jahr beim FC An der Fahner Höhe in der Thüringenliga verlief durchwachsen, auch, weil seine Mutter zwischenzeitlich schwer erkrankte. Den Traum vom Profifußball, wie ihn Bakery Jatta aus Gambia lebt, der 2016 als erster Flüchtling in Deutschland einen Profivertrag erhielt, hat der mittlerweile 19-Jährige trotzdem noch nicht aufgegeben. Für seine Familie. Für ein gemeinsames Leben in Sicherheit und Wohlstand. Und ohne Todesangst.