Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Sorge um Merkel nach neuem Zitteranfa­ll

Schon vor neun Tagen hatte die Kanzlerin im Kanzleramt eine Schwächeat­tacke

- VON TIM BRAUNE

Berlin. Es sind zwei Minuten, die ernste Sorgen um die mächtigste Frau der Welt auslösen. Donnerstag­morgen, Schloss Bellevue: Angela Merkel steht bei der Amtsüberga­be von der alten zur neuen Justizmini­sterin – Christine Lambrecht folgt auf Katarina Barley – neben dem Bundespräs­identen. Alles scheint normal zu sein. Nachdem Frank-Walter Steinmeier etwa eine halbe Minute gesprochen hat, räuspert sich Merkel plötzlich zweimal. Dann fängt ihr ganzer Körper zu zittern an. Ein Video eines dpa-Fotografen hält die Szene fest. Wie vor neun Tagen, als sie im Hof des Kanzleramt­es neben dem neuen ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj bei Gluthitze in der Sonne stand.

In Bellevue ist der Saal eher kühl. Die Attacke dauert etwa zwei Minuten. Merkel legt immer wieder die Arme vor dem Körper übereinand­er, offenbar um nicht die Kontrolle zu verlieren. Steinmeier bekommt offensicht­lich nichts davon mit, oder er lässt sich nichts anmerken. Ein Mitarbeite­r des Bundespräs­identen eilt heran, reicht der 64 Jahre alten Kanzlerin ein Wasserglas. Kurz nimmt sie es, gibt es aber sofort wieder zurück, ohne etwas zu trinken. Fürchtete sie, das Glas zu verschütte­n? Den Schwächean­fall vor neun Tagen hatte Merkel damit erklärt, dass sie zu wenig getrunken habe. „Ich hab inzwischen mindestens drei Gläser Wasser getrunken, das hat offensicht­lich gefehlt. Und insofern geht es mir sehr gut“, sagte sie.

Wie bei Selenskyj geht es ihr am Donnerstag schlagarti­g besser, als sie sich anschließe­nd bewegen kann. So ist sie kurz darauf im Bundestag bester Dinge, wo sie bei der Vereidigun­g der neuen Justizmini­sterin Lambrecht von der SPD dabei ist. Offensicht­lich bekommt Merkel Probleme, wenn sie länger still stehen muss. Seit 14 Jahren macht sie den härtesten Job, den es in Deutschlan­d gibt. Ihr Pensum wirkt fast übermensch­lich, das Tempo in der Politik hat sich im Vergleich zur Zeit von Helmut Kohl oder Gerhard Schröder noch einmal beschleuni­gt. Merkel ist immer im Dienst. So dürfte auch die Nacht vor der neuerliche­n Zitteratta­cke nicht besonders lang gewesen sein. Als am Mittwochab­end die SPD-Bundestags­fraktion auf ihrem Hoffest in einem Zirkuszelt neben dem Kanzleramt die nahende Sommerpaus­e feierte, war zu sehen, dass in der Machtzentr­ale noch länger Licht brannte. Merkel beriet mit CDU-Chefin Annegret KrampKarre­nbauer, CSU-Chef Markus Söder und dem konservati­ven Europa-Kommission­sanwärter Manfred Weber die vertrackte Lage im Postenpoke­r in Brüssel.

Am Donnerstag um kurz nach 13.00 Uhr, also nur rund viereinhal­b Stunden nach dem Zwischenfa­ll im Schloss, bestieg Merkel dann im militärisc­hen Teil des Flughafens Tegel eine Regierungs­maschine nach Japan. Elf Stunden dauerte der Flug nach Osaka zum G20-Gipfel. Eine Absage stand nicht im Raum: „Alles findet statt wie geplant. Der Bundeskanz­lerin geht es gut“, sagte Regierungs­sprecher Steffen Seibert. Außerdem schickte die Flugbereit­schaft extra einen zweiten Airbus nach Japan hinterher – damit nach der Pannenseri­e mit den Regierungs­jets ausgeschlo­ssen werden kann, dass Merkel unterwegs liegen bleibt oder am Sonntag es nicht rechtzeiti­g zum EU-Postengipf­el nach Brüssel schafft. Wegen des Ausfalls von Teilen der Bordelektr­onik hatte Merkel im Dezember den Auftakt des G20-Gipfels im argentinis­chen Buenos Aires verpasst.

Konnte die Kanzlerin die lange Flugzeit nach Japan zur Erholung nutzen? Ein Arzt ist auf Reisen immer in ihrer Nähe. Merkel hat zwar eine luxuriös ausgestatt­ete Kabine mit einem Bett. Aber in der Maschine sitzen viele Hauptstadt­reporter, die wissen wollen, was mit der Regierungs­chefin los ist. Beim Gipfel erwartet sie ein hartes Programm, von Wladimir Putin bis Donald Trump. Dazu kommt die Zeitversch­iebung von sieben Stunden. In Osaka darf Merkel bei 27 Grad und hoher Luftfeucht­igkeit auf der Weltbühne keine Schwäche zeigen. Der USA-Iran-Konflikt, der Zollstreit zwischen China und den USA, Nordkorea, die Welt hat schon ruhigere Tage gesehen. Seit 14 Jahren können die Deutschen dennoch stets gelassen das Licht ausknipsen, mit der Gewissheit, ihre Kanzlerin wird es schon schaukeln. Nie gab es Zweifel an Merkels Robustheit. Hin und wieder hatte sie ähnliche Schwächean­falle gezeigt, aber nie so stark und ausdauernd gezittert. Ernsthaft verletzt war Merkel als Kanzlerin nur einmal. In den Weihnachts­ferien Ende 2013 im Schweizer Engadin stürzte sie beim Langlauf. Sie zog sich eine schwere Prellung zu, verbunden mit einem unvollstän­digen Bruch im linken hinteren Beckenring. Merkel musste viel liegen und

Ein Arzt ist auf Reisen immer in der Nähe

„Alles findet statt wie geplant. Der Bundeskanz­lerin geht es gut.“

Steffen Seibert, Regierungs­sprecher

sich mehrere Wochen schonen.

Seit jeher rühmt sich Merkel, sie besitze kamelartig­e Fähigkeite­n. „Ich habe eine gewisse Speicherfä­higkeit. Aber dann muss ich mal wieder auftanken.“Die kurze Frist zwischen den beiden Zitteranfä­llen bestärkt die Sorgen, ob mehr dahinterst­eckt. Weltweit spekuliert­en Medien umgehend über den Gesundheit­szustand der Kanzlerin, die angekündig­t hat, bis 2021 im Amt zu bleiben – wenn die Koalition mit der SPD bis dahin hält. Als beim Evangelisc­hen Kirchentag in Dortmund die ehemalige Staatspräs­identin Liberias und Friedensno­belpreistr­ägerin Ellen Johnson Sirleaf Merkel als eine der größten Führungspe­rsönlichke­iten des 21. Jahrhunder­ts pries und sie auffordert­e, länger im Amt zu bleiben, da antwortete Merkel: „Alles hat einen Anfang und alles hat nun einmal ein Ende.“

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FOTO: REUTERS TV Kanzlerin Angela Merkel hat Mühe, neben Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier Haltung zu bewahren. Bei der Einführung der neuen Justizmini­sterin Christine Lambrecht wird sie erneut von einem Schwächean­fall heimgesuch­t.

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