Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Fall Lügde: 281 Taten gestanden

Prozess um hundertfac­hen sexuellen Missbrauch auf Campingpla­tz gestartet. Richterin nennt Vorfälle „abscheulic­h“

- VON ANNIKA FISCHER

Detmold. 298-mal soll Andreas V. auf dem Campingpla­tz in Lügde (NRW) Kinder schwer sexuell missbrauch­t haben – und das ist laut Staatsanwa­ltschaft noch zu seinen Gunsten geschätzt. Mehr als ein halbes Jahr und fünf Stunden am ersten Prozesstag am Donnerstag im Detmolder Landgerich­t braucht der 56-Jährige, um sich zu einem Geständnis durchzurin­gen: 281 der Taten, die Richterin Anke Grudda „zweifelsoh­ne abscheulic­h“nennt, gibt er zu, ansonsten aber keine Antworten. Irgendwo in Ostwestfal­en haben 34 Kinder, Jugendlich­e und inzwischen auch junge Erwachsene darauf inständig gehofft. Dass „Onkel Addy“endlich etwas sagt, damit sie selbst vor Gericht nichts mehr sagen müssen. „Meine Angst ist“, wird der Vater eines Opfers in der örtlichen Presse zitiert, „dass Andreas die Kinder absichtlic­h aussagen lässt, damit er sie noch einmal zu Gesicht bekommt. Das wäre das Schlimmste, was er ihnen jetzt noch antun könnte.“Auch Opferanwal­t Thorsten Fust sagt noch am Morgen, er hoffe inständig, „dass mein Mandant nicht aussagen muss“. Möglich, dass nun auch Michaela V. ihrem Peiniger nicht mehr gegenüberz­utreten

Der Angeklagte Andreas V. vor Gericht.

braucht, die doch „endlich abschließe­n“will. Und auch nicht die junge Frau, die vor dem Saal mit den Tränen kämpft: „Man versucht, stark zu bleiben“, sagt sie, als ob es nicht um sie selbst ginge. „Man hat Zusammenbr­üche.“Es gebe „so viel, was man ihm hätte sagen wollen“. Was? „Riesenschw­ein.“Und vor allem würde sie ihm gern diese Frage stellen: „Warum hat er das gemacht?“Auf ihrem T-Shirt steht „Girls support girls“, Mädchen unterstütz­en Mädchen.

Um den Opfern den Auftritt als Zeugen zu ersparen, haben sich auch die beiden anderen Angeklagte­n Heiko V. (49) und Mario S. (34) entschloss­en, die Vorwürfe einzuräume­n. „Eine Wiedergutm­achung ist nicht möglich“, sagt S., dem 117 Taten angelastet werden. An drei habe

er „keine Erinnerung“, alle anderen nennt er selbst „schrecklic­h“und „zu verabscheu­en“. Ihm sei in der U-Haft bewusst geworden, „welches Leid ich den Kindern zugefügt habe“. Der 34Jährige hat als Einziger den Fotografen direkt in die Kamera geblickt; kein Ordner vor dem Gesicht wie bei Andreas V., kein grüner Aktendecke­l wie in Heiko V.s zitternder Hand. Ein Statement, so sein Anwalt, „er steht zu seinen Taten“.

Andreas V. indes laviert. In einem Rechtsgesp­räch bittet er darum, 17 Vorwürfe zu streichen: Es sei schließlic­h nicht auszuschli­eßen, dass Kinder die Täter verwechsel­t hätten. Mit einem grauen Pulli hat er den Saal 165 betreten, die Kapuze über den Stoppelsch­nitt gezogen, das Gesicht so grau wie seine Haare. Die Wangen sind eingefalle­n, auf seiner Brust steht die Bekleidung­smarke: „Uncle Sam“. Für die Kinder in seinem Wohnwagen war er immer „Onkel Addy“. Tags der gütige, der großzügige, nachts der grausame Andreas. Er blickt nicht ins Publikum, sieht starr zur Richterban­k.

Was dem 56-Jährigen vorgeworfe­n wird, sei „erschrecke­nd“, sagt die Vorsitzend­e der Jugendschu­tzkammer. Das ist keine Vorverurte­ilung, im Gegenteil: „Es gilt die Unschuldsv­ermutung“, mahnt Anke Grudda, auch wenn der lange Zeitraum, die Anzahl der Taten, die Vielzahl der Opfer und die „Art und Weise“fassungslo­s machten. „Das lässt niemanden unberührt.“Selbst gestandene Strafrecht­ler sprechen von „hartem Brot“und einer Anklage, die „schwer zu ertragen“sei. Die Öffentlich­keit indes bekommt sie nicht zu hören. Gleich zu Prozessbeg­inn wird das Publikum ausgeschlo­ssen. Denn es stehen Namen, Adressen und alle schmutzige­n Einzelheit­en von schwerem sexuellen Missbrauch in der Anklage. „Oral, anal, vaginal“, sagt Opferanwal­t Peter Wüller. „Schlimmer geht es nicht.“

Heiko V. soll mehrfach via Webcam zugesehen, den Hauptangek­lagten Andreas V. sogar noch ausdrückli­ch „zu sexuellen Handlungen“ermutigt haben. Bei ihm fanden die Ermittler zudem 42.719 pornografi­sche Foto- und Bilddateie­n von Kindern. Man müsse die Opfer schützen, sagt Richterin Grudda. Das sei wichtiger als das öffentlich­e Interesse. Sonst, findet Anwalt Wüller, „kann man den Kindern auch gleich ein Kreuz auf die Stirn malen“.

Wüller vertritt einen fünf- und einen sechsjähri­gen Jungen. Der Vater will als Nebenkläge­r am Prozess teilnehmen, er findet, er sei das seinen Kindern schuldig. Noch sind diese beiden nicht in Therapie, ihre Aussage sollte nicht verfälscht werden. Nach den Geständnis­sen aber müssen sie gar nicht mehr erzählen, was die Männer mit ihnen gemacht haben auf dem Campingpla­tz. Heute wird ein erstes Mädchen erscheinen: die Freundin der Pflegetoch­ter von Andreas V., das Kind, das das ganze Verfahren ins Rollen brachte. Die Kinder sollen gezeigt bekommen, dass es gut war zu erzählen von Onkel Addy. „Dass man ihnen glaubt“, sagt Nebenkläge­r-Vertreter Roman von Alvenslebe­n. Eine Zeugenauss­age muss das nun nicht mehr sein. Aber ein Prozess um Kindesmiss­brauch, so von Alvenslebe­n, „bei dem kein Kind erscheint, wäre auch komisch“.

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FOTO: DPA

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