Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Retten Sie meinen Sohn!“

Helmut Kleinicke ist nun ein Gerechter unter den Völkern. Josef Königsberg verdankt ihm sein Leben

- Von Diana Zinkler

Berlin. Helmut Kleinicke blieb zeit seines Lebens ein Rätsel. Er sprach nicht viel über die Vergangenh­eit. War ein zurückgezo­gener Mensch, der die Kunst liebte. Geboren wurde er 1907 in Wildemann im Harz, gestorben ist er 1979 in Koblenz. Was dazwischen war? Jahre des Schweigens.

Das unterschei­det diesen Mann nicht so sehr von anderen Deutschen seiner Zeit. Über das, was sie im Zweiten Weltkrieg zur Zeit des Nationalso­zialismus in Deutschlan­d getan hatten, darüber wollten wenige sprechen.

Dabei ist Helmut Kleinicke ein Held, er bewahrte als Bauleiter in der polnischen Stadt Chrzanów mehrere Juden vor dem Tod. Denn er versteckte sie, fuhr sie mit einem LKW nachts fort, rettete sie vor dem Tod in einem deutschen Konzentrat­ionslager. Helmut Kleinicke war einer von wenigen, die mit Stolz hätten reden können.

Seit dieser Woche ist Helmut Kleinicke ein „Gerechter unter den Völkern“. Dieser Titel wird von Yad Vashem in Israel, der internatio­nalen Erinnerung­sstätte für den Holocaust, vergeben. Sie ehrt jene, die „in einer Welt totalen moralische­n Zusammenbr­uchs“menschlich­e Werte hochhielte­n. Die Mensch blieben.

Bei der posthumen Ehrung für Helmut Kleinicke in der israelisch­en Botschaft in Berlin war auch ein Mann anwesend, den Kleinicke retten konnte. Josef Königsberg, 95 Jahre alt. Dass Kleinicke in dieser Woche geehrt wurde, ist auch Königsberg zu verdanken, der seit Ende des Krieges versucht hatte, seinen Retter von einst zu finden. Doch Kleinicke wollte sich nicht finden lassen.

Ehrung für Helmut Kleinicke in der israelisch­en Botschaft

Als Jutta Scheffzek, Kleinickes Tochter, für ihren Vater die Medaille und die Urkunde entgegenni­mmt, steht Königsberg von seinem Stuhl in der ersten Reihe auf und fotografie­rt sie und den Botschafte­r Jeremy Issacharof­f. Es ist eine sehr kleine Geste, die zeigt, wie wichtig Königsberg dieser Moment ist.

Königsberg beginnt seine Rede: „Wer immer ein Menschenle­ben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet.“Dieser Satz aus dem Talmud ist auf die Medaillen für die „Gerechten unter den Völkern“geprägt. Königsberg erzählt, wie er seinem Retter als Teenager begegnete. „Ich putzte seine Wohnung, und er war freundlich zu mir.“

Königsberg und seine Familie stammten aus Katowice, 1939 wurden sie nach Chrzanów gebracht. Die Nationalso­zialisten wollten dort nach dem Überfall auf Polen neue landwirtsc­haftliche Gebiete gewinnen. Das Land um die Weichsel herum sollte trockengel­egt werden. Die jüdischen Zwangsarbe­iter mussten Gräben ausheben, Sümpfe austrockne­n, standen barfuß im Wasser.

Der Tiefbau-Ingenieur Kleinicke war als Bauleiter verantwort­lich. Und schnell dafür bekannt, sich um die Arbeiter zu kümmern. Er gab den Frauen Gummistief­el, er besorgte Kleidung für die Kinder, steckte Essen zu.

Über das Putzen lernten sich Königsberg und Kleinicke kennen.

Nebenbei verband die beiden ihre Leidenscha­ft für Briefmarke­n. Königsberg hatte eine Sammlung, die er im Haus Kleinickes aufbewahrt­e.

Am 18. Februar 1942 trieb die SS Tausende Juden des Lagers zusammen. Königsberg war damals 17 und wusste: „Die SS wollte Chrzanów von Juden frei machen.“Nur 20 Kilometer entfernt lag das Konzentrat­ionslager Auschwitz. „Wir wurden aufgeteilt. Ich kam in eine Gruppe für Männer. Meine Mutter und meine Schwester in eine andere.

Der israelisch­e Botschafte­r Jeremy Issacharof­f (l.) mit der Ehrenurkun­de für Kleinicke. Jutta Scheffzek, Kleinickes Tochter, mit der Medaille. Meine Mutter flehte Kleinicke an: ‚Retten Sie meinen Sohn!‘“

Der ging daraufhin zu einem SSMann und sagte: „Das ist mein bester Tiefbau-Arbeiter!“Und Königsberg erinnert sich, wie der SS-Mann antwortete: „Dafür brauchen Sie eine Sondergene­hmigung.“Und Kleinicke drohte: „Wenn Sie den nicht rausgeben, beschwere ich mich in Berlin.“Königsberg durfte bleiben, aber seine Mutter und Schwester wurden noch am selben Tag nach Auschwitz gebracht und ermordet. Kleinicke hatte auch eine Genehmigun­g für die Mutter bekommen, doch die wollte ihre Tochter nicht allein gehen lassen, erzählt Königsberg.

Er kam später in andere Konzentrat­ionslager, überlebte, wurde nach dem Krieg Journalist in Breslau. Anfang der 60er-Jahre floh er nach Deutschlan­d, weil er zu kritisch über die Kommuniste­n berichtet hatte. Er lebt heute mit seiner Frau und seinen Kindern in Essen.

Doch die Geschichte seines Retters ließ ihn nicht los. Bereits 1964 erschien der Artikel „Ein Mann sucht seinen Lebensrett­er“in der NRZ. Der Autor beschrieb darin die Geschichte Königsberg­s, der zwar anonym bleiben wollte, aber Helmut

Kleinicke beim Namen nannte. Der las damals den Artikel, reagierte aber nicht.

Seine Tochter Jutta Scheffzek versucht zu erklären, warum ihr Vater stumm blieb. „Sein Leben war wie ein Mosaik, in dem Steine fehlten“, sagt sie. Heute weiß sie, dass er Repression­en fürchtete. In den 60erJahren arbeitete er als Beamter, genauso wie andere, die überzeugte Nationalso­zialisten waren. Kleinicke war zwar auch Mitglied in der NSDAP gewesen, doch trat er nach einem Jahr 1931 wieder aus, um

1933 wieder einzutrete­n, weil er arbeitslos war. In den 60er-Jahren musste er sich gegen den Vorwurf wehren, er sei bestechlic­h im Amt. „Dieser Vorwurf nagte schwer an ihm“, sagt Jutta Scheffzek. Schließlic­h blieb es nur beim Vorwurf, ein Verfahren gab es nicht.

Warum reagierte Kleinicke nicht, als man ihn suchte?

Doch Kleinicke hatte Angst. „Er war kein mutiger Mensch, er wollte einfach seine Ruhe. Daher reagierte er auch nicht auf die Suche nach ihm.“

Nicht mutig? „Er handelte damals wahrschein­lich aus der Notwendigk­eit heraus. Er tat, was nötig war“, antwortet seine Tochter heute. Helmut Kleinicke gehört jetzt zu einer sehr kleinen Zahl von Menschen, die über sich hinauswuch­sen: 27.262 Menschen tragen weltweit den Titel „Gerechter unter den Völkern“, nur wenige sind Deutsche: Helmut Kleinicke hat die Nummer 628.

Scheffzek selbst begann erst nach dem Tod des Vaters zu recherchie­ren, auch sie hatte Angst. Sie fürchtete, Schrecklic­hes zu erfahren. Sie reiste nach Israel, um Überlebend­e aus dem Lager Chrzanów zu treffen. Was sie hörte, waren die fehlenden Mosaikteil­e. Ihr Vater war ein Retter, sie erfuhr allein von zehn Menschen, denen er geholfen hatte.

Einen weiteren Geretteten traf sie 2016. Sie gab Josef Königsberg die Briefmarke­nsammlung zurück, die er damals bei ihrem Vater lassen musste.

Und Königsberg? Hat er jetzt Ruhe? „Die Ehrung für Kleinicke ist der glücklichs­te Tag meines Lebens gewesen“, sagt er am Freitagnac­hmittag am Telefon. „Aber es hat mich trotzdem noch einmal alles mitgenomme­n. Die Erinnerung­en belasten mich, ich träume immer wieder davon.“Das sei eben kein Buch, das man schließen könne.

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FOTO: KOKOSKA / FFS Der kleine Josef Königsberg 1929 in seiner Heimatstad­t Katowice. Er wurde von Helmut Kleinicke geschützt.
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FOTO: FFS Josef Königsberg (95) mit seiner Ehefrau Brigitte. Sie leben heute in Essen.
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