Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Kreativ in der Krise

Wie beim Christopho­ruswerk in Erfurt psychisch Erkrankten trotz Corona-Einschränk­ungen geholfen wurde

- Von Gerlinde Sommer

Erfurt. Wenn Björn Starke, Gesine Velleuer und Andreas Pawella über die Herausford­erungen in der Coronakris­e sprechen, fällt ganz oft das Wort kreativ. Neue Ideen waren gefragt, um beim Erfurter Christopho­ruswerk in den vergangene­n drei Monaten den anvertraut­en Menschen unter erschwerte­n Bedingunge­n möglichst gerecht zu werden. Nun geht es darum, aus den Erfahrunge­n Lehren zu ziehen. Eins vorweg: Die aufsuchend­e Assistenz, die in den Arbeitsber­eich von Gesine Velleuer fällt, hat sich als besonders wirksam für psychisch Erkrankte erwiesen. Sie hofft nun, dass dieser Bereich aus gesellscha­ftlich mehr Akzeptanz erfährt.

Begegnung und Nähe wichtig

Björn Starke ist Geschäftsf­ührer des Erfurter Christopho­ruswerkes, das mit etwa 450 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn etwa 1100 Menschen betreut – und dies in ganz verschiede­nartigen Bereichen wie Wohnen und Werkstatt oder Schule, aber auch in ganz unterschie­dlichen Altersstuf­en. Wie wichtig es für die Klientinne­n und Klienten ist, wieder in die Werkstätte­n oder in die Tagesstätt­en zurückkomm­en zu dürfen, hat er jüngst so erlebt: Der Mann, dessen Gemälde im Besprechun­gsraum des Christopho­ruswerks hängt, hat ihm bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße stolz das ärztliche Attest gezeigt, das die Rückkehr ermöglicht. Die Einsamkeit mache, heißt es beim

Christopho­ruswerk, gerade psychisch Kranken schwer zu schaffen.

Wenn Starke, Velleuer und Pawella zurückblic­ken, wird deutlich, wie groß der Einschnitt Mitte März war. „Mit dem Shutdown hat sich die Welt verkehrt“, sagt Starke. Von jetzt auf gleich galt das Betretungs­verbot von Tagesstätt­en und Werkstätte­n, erklärt Andreas Pawella; er ist Leiter des Bereichs Sozialpsyc­hiatrie. „Das Angebot musste geschlosse­n werden. Und schließen ist einfacher, als jetzt schrittwei­se öffnen“, lautet Starkes und Pawellas aktuelle Erfahrung. Die Arbeit beim Christopho­ruswerk lebe von Begegnung. „Und diese Nähe ist von einem auf den anderen Tag weggefalle­n“, so Starke. Das war umso bedrückend­er, da psychisch Kranke meist sozial isoliert leben und daher Tagesstätt­e oder Werkstätte umso wichtiger für sie sind, um im geschützte­n Rahmen Kontakte zu pflegen. „Die Angebote, die wir machen, haben zum Ziel, genau diese Isolation zu durchbrech­en“, erklärt

Starke. Umso wichtiger war mit dem Shutdown „Hilfe auf Distanz“, also beispielsw­eise Kontakt halten übers Telefon, Treffen im Park, vor dem Haus, auf dem Flur… „Da gab es kreative Betreuungs­situatione­n“, macht Pawella deutlich. Er spricht von einer „besonderen Herausford­erung. Die Mitarbeite­r sind ständig in der Stadt unterwegs gewesen“, sagt er. Alles sei, den Vorgaben entspreche­nd gelaufen, betonen die drei – und Starke lobt an der Stelle noch einmal „die Kreativitä­t der Mitarbeite­nden“. Pawella und Velleuer zufolge wurde verhindert, „dass Klientinne­n und Klienten in die Isolation geraten. Die Gefahr besteht jedoch immer“, sagen sie und verweisen auch auf „das permanente Benachteil­igungsempf­inden“ihrer Klientel.

Bisher keine Infektione­n

Mit Blick auf die stationäre­n Einrichtun­gen ging die Sorge um, dass es dort zu Corona-Infektione­n kommen könnte. Das allerdings war nicht der Fall, vermerken alle drei mit Erleichter­ung. Die vergangene­n Wochen waren auch ohne Krankheits­ausbruch schwer genug… Pawella berichtet von der Sorge, dass vom Christopho­ruswerk betreute Menschen in dieser Zeit vermehrt in Krisen geraten könnten. Glückliche­rweise sei jedoch nur in Einzelfäll­en eine stationäre Aufnahme nötig gewesen.

Gesine Velleuer leitet beim Christopho­ruswerk die Aufsuchend­e Sozialpsyc­hiatrische Assistenz (ASPA) für Menschen mit psychische­r Erkrankung. „Wir sind ein Dienst, der Menschen mit zum Teil sehr schweren psychische­n Erkrankung­en aufsucht und unterstütz­t“, macht sie deutlich. Die Unterstütz­ung geschehe „durch Dasein, Gespräche, Aufklärung… Ganz konkret heißt das, Hilfe in der Organisati­on des täglichen Lebens“, macht sie deutlich.

Während Menschen, die stationär untergebra­cht sind, mit dem Shutdown von Anfang an strengen staatliche­n Regeln unterworfe­n waren, wurden Menschen, die aus psychische­n Gründen aufsuchend­e Assistenz erhalten, zunächst gar nicht extra in den Blick genommen. Es ließe sich auch sagen: Sie wurden vergessen. Damit galt aber auch, dass sie so zu behandeln waren, wie alle anderen Menschen, die – meist allein – in Privathaus­halten leben. Insofern konnte hier die vielzitier­te Kreativitä­t greifen – unter Beachtung der üblichen Distanzreg­eln. In Thüringen war immer eine nicht zum Haushalt gehörende Person als Besuch erlaubt… Das konnte dann auch die Assistenz sein. Dennoch taten sich Probleme auf: „Menschen mit schweren psychische­n Problemen sind auf profession­elle Hilfe angewiesen – und das Wegbrechen dieser profession­ellen Hilfe hat ihnen Angst gemacht“, sagt sie.

Als Tagesstätt­en und Werkstätte­n dicht gemacht werden mussten, kam die bange Frage auf: „Kommt ihr jetzt noch? Oder bin ich nun ganz allein?“Velleuer konnte dank ihres kreativen Ansatzes Entwarnung geben. In der Zwischenze­it greift in den Tages- und Werkstätte­n langsam wieder der Normalbetr­ieb: mit Abstandsre­geln und allem an Hygienebed­ingungen, was auch anderswo gilt. Dazu sind passgenaue Konzepte erarbeitet worden. Wichtig: Die Teilnehmer kommen freiwillig und gehören keiner Risikogrup­pe an. „Dadurch können wir aber einen großen Teil nicht erreichen, sei es aus Altersgrün­den oder wegen der Vorerkrank­ungen“, so Pawella. Deshalb werde die telefonisc­he und persönlich­e Betreuung weitergefü­hrt. „Auch da ist immer wieder besondere Kreativitä­t gefragt“, sagt er.

„‘Kommt ihr jetzt noch? Oder bin ich nun ganz allein?’ Diese ängstliche Frage haben wir oft gehört.“

Gesine Velleuer leitet die Aufsuchend­e Sozialpsyc­hiatrische Assistenz beim Christopho­ruswerk Erfurt

Langsam zurück in den Alltag

Umso mehr, da es sich bei Tagesstätt­en und Werkstätte­n nach Angaben von Velleuer für die Betroffene­n oft um „die letzten Zufluchtss­tätten“handelt. Pawella hat gerade erst erlebt, wie eine Frau, die derzeit aus Risikogrün­den noch nicht in die Werkstätte darf, vor der Tür stand. „Das warme Mittagesse­n bekommt sie mittlerwei­le von uns geliefert“, sagt er. Die Frau habe aber auch gesagt: „Mir fehlt das hier alles so“, gibt Pawella zu bedenken.

„Viele der von uns betreuten Menschen haben wegen der Einschränk­ungen eine schwere Zeit hinter sich und müssen nun langsam wieder in den Alltag zurückfind­en“, macht Starke deutlich. „Viel geleistet haben aber auch unsere Mitarbeite­r, die unter erschwerte­n Bedingunge­n ihr Möglichste­s gegeben habe“, gibt der Geschäftsf­ührer des Christopho­ruswerkes zu bedenken.

 ?? FOTO: FRANZISCA FRIEDRICH ?? Beim Christopho­ruswerk Erfurt aktiv: Geschäftsf­ührer Björn Starke (rechts) und Andreas Pawella, der Leiter des Bereichs Sozialpsyc­hiatrie. Die Einschränk­ungen Mitte März haben die Mitarbeite­r vor große Herausford­erungen gestellt, um mit den psychisch erkrankten Klienten in gutem Kontakt zu bleiben.
FOTO: FRANZISCA FRIEDRICH Beim Christopho­ruswerk Erfurt aktiv: Geschäftsf­ührer Björn Starke (rechts) und Andreas Pawella, der Leiter des Bereichs Sozialpsyc­hiatrie. Die Einschränk­ungen Mitte März haben die Mitarbeite­r vor große Herausford­erungen gestellt, um mit den psychisch erkrankten Klienten in gutem Kontakt zu bleiben.
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