Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Wir spielen jetzt Mann und Frau“

Maike Lunna wurde als Kind sexuell missbrauch­t. Erst als Erwachsene kann sie sich erinnern. Eine psychologi­sche – und rechtliche Herausford­erung

- Von Diana Zinkler

Berlin. Maike fährt mit ihren Eltern im Auto. Es geht zu Freunden, bei denen sie immer feiern und trinken. Später sitzen ihre Eltern mit dem anderen Paar rund um den Couchtisch. Die andere Mutter sagt: „Geht runter in den Keller, spielen.“Maike bleibt vor dem Tisch stehen, antwortet: „Ich will nicht spielen. Wir spielen nicht.“Maike ist neun Jahre alt, der Sohn ist älter, 13, 14 oder 15. Keiner fragt nach, was macht ihr sonst da unten, wenn ihr nicht spielt?

Der Sohn nimmt Maike an die Hand. Im Keller sind keine Spielsache­n. Aber ein Bett. Er sagt mit kieksender Stimme: „Wir spielen jetzt Mann und Frau.“Sie sagt: „Nein, ich will nicht.“Er sagt: „Das ist doch schön.“Er drückt sie runter, kommt von rechts, legt sich auf sie, schiebt ihren Pulli hoch, die Hose runter, hält sie fest. Er dringt mit der Hand in sie ein. Maike lässt es über sich ergehen. Ihr Geist wandert an die Kellerdeck­e, sie sieht sich und den Jungen von oben.

„Ich musste weinen, spucken, immer wenn ich in der ersten Zeit versuchte, jemandem davon zu erzählen.“

Maike Lunna, Missbrauch­sopfer

40 Jahre später. Maike Lunna weiß nicht, wie lange es damals gedauert hat. Sie hat Lücken, was den kompletten Ablauf betrifft. Sie weiß aber inzwischen, dass sie vom Sohn über etwa ein Jahr, an vier, fünf Abenden sexuell missbrauch­t wurde. „Oliver“soll er zum Schutz seiner Persönlich­keit hier heißen.

Lunna erzählt am Telefon, wie sie versucht Hilfe und auch nach mehr als 30 Jahren noch Recht zu bekommen. Denn der sexuelle Kindesmiss­brauch, den Maike Lunna erlebt hat, ist strafrecht­lich verjährt. Lunna ist heute 49 Jahre alt. 37 Jahre lang wusste sie nicht, dass sie als Neunjährig­e missbrauch­t wurde. Erst im Alter von 46 erinnerte sie sich: „Ich wurde mit ihm in den Keller geschickt.“

Auf Nachfrage erklärt der Strafrecht­sexperte Professor Wolfgang Mitsch von der Universitä­t Potsdam, dass im Strafrecht die Verjährung­sfrist bei sexuellem Kindesmiss­brauch je nach Schwere der Tat bei zehn bis 20 Jahren liegt. Kommt das Kind infolge des Missbrauch­s ums Leben, beträgt die Frist 30 Jahre. Hinzu kommt, dass bei sexuellem Kindesmiss­brauch die Verjährung­sfrist bis zur Vollendung des

30. Lebensjahr­es des Opfers „ruht“, die Frist also nicht läuft. Wenn aber „eine Frau oder ein Mann erst im 50. Lebensjahr davon erfährt, dass sie oder er als Kind Opfer eines sexuellen Missbrauch­s geworden ist, ist die Tat tatsächlic­h bereits verjährt“, so Mitsch.

Das, was bei Maike Lunna diagnostiz­iert wurde, bezeichnen Psychologe­n als Dissoziati­ve Amnesie. Dr. Myriam Thoma forscht dazu an der Universitä­t Zürich: „Ein solches Vergessen kann ausgelöst werden, wenn eine Person ein traumatisi­erendes Ereignis erlebt und die Situation als unerträgli­ch empfindet.“

Die Psyche ist überforder­t und die Dissoziati­on der Versuch, um die emotional sehr schwere Situation zu bewältigen.

Wie der sexuelle Missbrauch 37 Jahre später herauskam

Maike Lunna stand im März 2017 vor einem Scherbenha­ufen. Ihr Mann liebte eine andere, die Ehe war am Ende. Den Schmerz beschreibt sie wie eine offene Wunde. „Die Affäre war für mich ein Schock“, sagt sie. „Ich war drei Wochen außer mir, bis Oliver hochkam.“An dem Abend saß sie auf dem Sofa. War allein. Sie sah die ersten Szenen, Bilder wie Blitze, nicht alles sofort. „Ich musste weinen, würgen, immer wenn ich in der ersten Zeit versuchte, jemandem davon zu erzählen.“

Untersuchu­ngen zeigen, so Dr. Myriam Thoma , dass durchschni­ttlich 15 bis 20 Jahre zwischen dem Missbrauch und der Offenbarun­g liegen und dass 60 bis 70 Prozent der Betroffene­n erst als Erwachsene über erlebten sexuellen Missbrauch in der Kindheit berichten, so Thoma. In dieser Zeitspanne leiden die Betroffene­n stark unter diesem dunklen Geheimnis.

„Er hat mir immer gesagt: Ich könnte es ruhig erzählen, es würde mir eh keiner glauben.“Später in ihrem Kinderbett presste sie ihre Hände in ihren Schritt. „Ich habe mich nicht mehr getraut zu trinken, weil ich nicht Pipi machen wollte, weil das so höllisch gebrannt hat.“

Ihre Eltern haben damals nichts gegen den Jungen unternomme­n. Unklar ist auch, wie viel sie überhaupt wussten.

Maike Lunna macht seit dreieinhal­b Jahren eine Therapie, die Krankenkas­se bezahlt das. Noch. In der Regel werden 80 Stunden bezahlt. Maike Lunna hat nun einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentsc­hädigungsg­esetz gestellt, um weitere Therapiesi­tzungen nehmen zu können. Bei all diesen Stellen, ist die Amnesie immer ein Problem. Es geht nämlich auch um die Glaubwürdi­gkeit des Patienten, und wenn der sich nicht an alles erinnern kann, bleiben Fragen offen.

Rechtlich hätte Maike Lunna noch eine Chance: im Zivilrecht. Dort beginnt die 30-jährige Verjährung­sfrist erst ab dem Moment, an dem der Geschädigt­e Kenntnis von dem Missbrauch hat.

Maike Lunna will auf die Situation Betroffene­r aufmerksam machen. Gesetzesän­derungen, höhere Strafen für Täter, alles richtig, sagt sie: „Aber weiterlebe­n muss ich damit und dabei brauche ich Hilfe – wie so viele andere auch.“

 ?? FOTO: SEBASTIAN HOFMANN ?? Maike Lunna (49) leidet unter einer Dissoziati­ven Amnesie. Lange hatte sie den Missbrauch im Kindesalte­r vergessen. Die Aufarbeitu­ng ist schwer.
FOTO: SEBASTIAN HOFMANN Maike Lunna (49) leidet unter einer Dissoziati­ven Amnesie. Lange hatte sie den Missbrauch im Kindesalte­r vergessen. Die Aufarbeitu­ng ist schwer.

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