Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Wird Corona zum Problem der Ärmeren?
Breitete sich das Virus zunächst unter Skiurlaubern aus, trifft es nun zunehmend sozial Benachteiligte
Göttingen. Es ist eine beklemmende Szene: Familien stehen hinter einem Gitterzaun, eingesperrt und wütend. Es sind die Bewohner eines mehrstöckigen Wohnblocks in Göttingen. Die Stadt im Süden von Niedersachsen hatte am vergangenen Mittwoch den kompletten Gebäudekomplex mit seinen rund 700 Bewohnern unter Quarantäne gestellt. Frauen, Männer und Kinder leben seither hinter einer meterhohen Absperrung, weil sich in ihrem Wohnhaus zuletzt rund 120 Menschen mit dem Coronavirus angesteckt hatten. Mit dem Zaun wollen die Behörden verhindern, dass Infizierte das Virus weitertragen.
Am Sonnabend kam es zu Tumulten. Einige aufgebrachte Bewohner versuchten, das Gelände zu verlassen. Die zur Amtshilfe eingesetzten Polizisten wurden aus dem Gebäude heraus mit Flaschen, Steinen, Metallstangen, Haushaltsgegenständen und Pyrotechnik beworfen. Acht Beamte erlitten Verletzungen.
Bereits vor zweieinhalb Wochen war es in einem anderen Göttinger Hochhauskomplex zu einem Corona-Ausbruch mit mehr als 100 Infizierten gekommen, ebenso in Berlin-Neukölln. Es ist kein Geheimnis, dass in den betroffenen Wohnblöcken vor allem Menschen leben, die wenig Geld haben. Zunehmend zeigt sich, dass es bei der Ausbreitung des Virus in Deutschland zu einer Verschiebung kommt: Wer arm ist und sozial benachteiligt, trägt inzwischen ein höheres Infektionsrisiko. Das bestätigen auch die jüngsten Corona-Ausbrüche unter
Schlachthofbeschäftigten und Erntehelfern aus dem Ausland. Sie sind schlecht bezahlt und leben meist in beengten Sammelunterkünften. Auch in Flüchtlingswohnheimen ist es bereits mehrfach zu Ausbrüchen des Virus gekommen.
In der Anfangsphase der Pandemie Mitte März war die Lage noch eine andere. Damals breitete sich der Erreger vor allem über Heimkehrer aus österreichischen Skiorten aus. Wer sich den kostspieligen Winterurlaub samt Hüttengaudi in der Hochsaison leisten konnte und sich beim feucht-fröhlichen AprèsSki in vollen Schneebars amüsiert hatte, galt potenziell als gefährdet. Ähnliches galt für Kreuzfahrttouristen. Corona betraf anfangs vor allem die Wohlhabenderen. Nun trifft es die Benachteiligten. Damit zeichnet sich eine Tendenz ab, die bereits in den USA zu beobachten ist. Dort treten in ärmeren Vierteln, in denen mehrheitlich Schwarze oder Bewohner mit lateinamerikanischer Herkunft leben, überdurchschnittlich viele Covid-19-Fälle auf.
Zugleich wachsen in Deutschland die Befürchtungen, die jüngsten Corona-Ausbrüche könnten in eine Art Schuld- oder Herkunftsdebatte abgleiten. Den jüngsten Ausschlag hierzu gaben Äußerungen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU), in dessen Bundesland das Stammwerk des Schlachtgroßbetriebs Tönnies liegt. Dort waren zuletzt mehr als 1000 Beschäftigte positiv auf das Virus getestet worden. Viele von ihnen stammen aus Osteuropa und verdingen sich in den deutschen Fleischfabriken unter schlechten Bedingungen und für wenig Geld. Im Umkreis der Fabrik wurden in der Folge des Ausbruchs vorübergehend wieder alle Schulen und Kitas geschlossen. Auf die Frage, was der Fall Tönnies über die bisherigen Corona-Lockerungen aussagt, hatte Laschet am vergangenen Mittwoch geantwortet: „Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt.“Diese Äußerung hatte breite Empörung ausgelöst.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sah sich beim Besuch in Bulgarien veranlasst, gegenüber der Regierung in Sofia Stellung zu beziehen und sprach von einer „unqualifizierten Bemerkung“, die „höchst gefährlich“sei. Laschet, der zugleich CDU-Bundesvize ist und Parteichef werden will, versuchte zwar am Tag darauf einzulenken: „Menschen gleich welcher Herkunft irgendeine Schuld am Virus zu geben, verbietet sich“, sagte er. Doch genau so war seine Bemerkung von vielen aufgefasst worden.
„Das Virus breitet sich dort am besten aus, wo viele Menschen zusammenkommen. Mit ihrer Herkunft hat das überhaupt nichts zu tun“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider. „Jung wie Alt sind betroffen, wenn sie auf zu engem Raum in Kontakt sind oder sogar leben, ohne dass hygienische
„Das Virus breitet sich dort am besten aus, wo viele Menschen zusammenkommen. Mit ihrer Herkunft hat das überhaupt nichts zu tun.“
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des
Paritätischen Wohlfahrtsverbands