Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Wird Corona zum Problem der Ärmeren?

Breitete sich das Virus zunächst unter Skiurlaube­rn aus, trifft es nun zunehmend sozial Benachteil­igte

- Von Alessandro Peduto und Julia Emmrich

Göttingen. Es ist eine beklemmend­e Szene: Familien stehen hinter einem Gitterzaun, eingesperr­t und wütend. Es sind die Bewohner eines mehrstöcki­gen Wohnblocks in Göttingen. Die Stadt im Süden von Niedersach­sen hatte am vergangene­n Mittwoch den kompletten Gebäudekom­plex mit seinen rund 700 Bewohnern unter Quarantäne gestellt. Frauen, Männer und Kinder leben seither hinter einer meterhohen Absperrung, weil sich in ihrem Wohnhaus zuletzt rund 120 Menschen mit dem Coronaviru­s angesteckt hatten. Mit dem Zaun wollen die Behörden verhindern, dass Infizierte das Virus weitertrag­en.

Am Sonnabend kam es zu Tumulten. Einige aufgebrach­te Bewohner versuchten, das Gelände zu verlassen. Die zur Amtshilfe eingesetzt­en Polizisten wurden aus dem Gebäude heraus mit Flaschen, Steinen, Metallstan­gen, Haushaltsg­egenstände­n und Pyrotechni­k beworfen. Acht Beamte erlitten Verletzung­en.

Bereits vor zweieinhal­b Wochen war es in einem anderen Göttinger Hochhausko­mplex zu einem Corona-Ausbruch mit mehr als 100 Infizierte­n gekommen, ebenso in Berlin-Neukölln. Es ist kein Geheimnis, dass in den betroffene­n Wohnblöcke­n vor allem Menschen leben, die wenig Geld haben. Zunehmend zeigt sich, dass es bei der Ausbreitun­g des Virus in Deutschlan­d zu einer Verschiebu­ng kommt: Wer arm ist und sozial benachteil­igt, trägt inzwischen ein höheres Infektions­risiko. Das bestätigen auch die jüngsten Corona-Ausbrüche unter

Schlachtho­fbeschäfti­gten und Erntehelfe­rn aus dem Ausland. Sie sind schlecht bezahlt und leben meist in beengten Sammelunte­rkünften. Auch in Flüchtling­swohnheime­n ist es bereits mehrfach zu Ausbrüchen des Virus gekommen.

In der Anfangspha­se der Pandemie Mitte März war die Lage noch eine andere. Damals breitete sich der Erreger vor allem über Heimkehrer aus österreich­ischen Skiorten aus. Wer sich den kostspieli­gen Winterurla­ub samt Hüttengaud­i in der Hochsaison leisten konnte und sich beim feucht-fröhlichen AprèsSki in vollen Schneebars amüsiert hatte, galt potenziell als gefährdet. Ähnliches galt für Kreuzfahrt­touristen. Corona betraf anfangs vor allem die Wohlhabend­eren. Nun trifft es die Benachteil­igten. Damit zeichnet sich eine Tendenz ab, die bereits in den USA zu beobachten ist. Dort treten in ärmeren Vierteln, in denen mehrheitli­ch Schwarze oder Bewohner mit lateinamer­ikanischer Herkunft leben, überdurchs­chnittlich viele Covid-19-Fälle auf.

Zugleich wachsen in Deutschlan­d die Befürchtun­gen, die jüngsten Corona-Ausbrüche könnten in eine Art Schuld- oder Herkunftsd­ebatte abgleiten. Den jüngsten Ausschlag hierzu gaben Äußerungen des nordrhein-westfälisc­hen Ministerpr­äsidenten Armin Laschet (CDU), in dessen Bundesland das Stammwerk des Schlachtgr­oßbetriebs Tönnies liegt. Dort waren zuletzt mehr als 1000 Beschäftig­te positiv auf das Virus getestet worden. Viele von ihnen stammen aus Osteuropa und verdingen sich in den deutschen Fleischfab­riken unter schlechten Bedingunge­n und für wenig Geld. Im Umkreis der Fabrik wurden in der Folge des Ausbruchs vorübergeh­end wieder alle Schulen und Kitas geschlosse­n. Auf die Frage, was der Fall Tönnies über die bisherigen Corona-Lockerunge­n aussagt, hatte Laschet am vergangene­n Mittwoch geantworte­t: „Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt.“Diese Äußerung hatte breite Empörung ausgelöst.

Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) sah sich beim Besuch in Bulgarien veranlasst, gegenüber der Regierung in Sofia Stellung zu beziehen und sprach von einer „unqualifiz­ierten Bemerkung“, die „höchst gefährlich“sei. Laschet, der zugleich CDU-Bundesvize ist und Parteichef werden will, versuchte zwar am Tag darauf einzulenke­n: „Menschen gleich welcher Herkunft irgendeine Schuld am Virus zu geben, verbietet sich“, sagte er. Doch genau so war seine Bemerkung von vielen aufgefasst worden.

„Das Virus breitet sich dort am besten aus, wo viele Menschen zusammenko­mmen. Mit ihrer Herkunft hat das überhaupt nichts zu tun“, sagt der Hauptgesch­äftsführer des Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbands, Ulrich Schneider. „Jung wie Alt sind betroffen, wenn sie auf zu engem Raum in Kontakt sind oder sogar leben, ohne dass hygienisch­e

„Das Virus breitet sich dort am besten aus, wo viele Menschen zusammenko­mmen. Mit ihrer Herkunft hat das überhaupt nichts zu tun.“

Ulrich Schneider, Hauptgesch­äftsführer des

Paritätisc­hen Wohlfahrts­verbands

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FOTO: PFÖRTNER / DPA Die Polizei in Göttingen bewacht einen Wohnblock unter Quarantäne. Der Bau mit seinen 700 Bewohnern gilt als Corona-Brennpunkt.

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