Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Lotte geht in Werthers Schule

Theater im Gewölbe: Walter Hesse arrangiert Goethes Roman für einen Frauenmono­log um

- Von Michael Helbing Wieder am Freitag, 26. Juni, am Dienstag, 7. Juli, und am Montag, 20. Juli.

Weimar. Das Pathos fehlte dem Theater schon, als uns das Theater noch nicht fehlte. Nach Monaten totaler Stille ist beides plötzlich wieder da und wiedervere­int zum Ort des Erlebens und der Leidenscha­ft.

Es handelt sich um eine ohnehin kleine, wie sie es nennen, KlassikBüh­ne im Cranach-Haus: das Weimarer Theater im Gewölbe, dessen Kerngeschä­ft auch im zwanzigste­n Jahr Stücke von, nach und über Goethe und Schiller sind. Es ist nun das erste weit und breit, das, seit einer Woche schon, wieder spielt.

Da kann man schon mal a priori pathetisch werden, sofern man hier etwas entbehrte. Jemand maskiert und demaskiert und markiert für uns mit Lust sein Inneres. Zeigt Gesicht und Gesichter, während wir die unseren verhüllen müssen.

Dreißig Zuschauer mit ganz vorschrift­smäßigem Mund-und NasenSchut­z. Damit ist eine Vorstellun­g, die sonst mehr als das Dreifache vertrüge, in diesen Zeiten schon ausverkauf­t. Und das Privatthea­ter, bislang durch jedes Raster einer Corona-Soforthilf­e gefallen, kämpft derart weiter ums Überleben.

Das ist nicht Werthers Kampf. Lieber will der sich sterben sehen, als das, was er für die einzig wahre Liebe hält. Das alles gilt Lotte. Die, anderweiti­g bodenständ­ig gebunden, stellt er auf den unerreichb­ar hohen Sockel: als seinen Engel, seine Göttin, Angebetete. „Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.“Goethes Werther liebt literarisc­h. Erich Kästner würde sagen: vegetarisc­h.

Was in Lotte vorging, lesen wir beim „Herausgebe­r“der Briefe an Wilhelm, „getrauen wir uns kaum mit Worten auszudrück­en“. Walter Hesse (alias Detlef Heintze) traut sich. Manchmal. „Jaa, er war mir schon liebgeword­en damals“, legt er ihr in den Mund. „Aber Liebe?“Und: „Seine Vergötteru­ng gegenüber allem, was ich tat, war mir manchmal direkt unangenehm.“

Das ist, wie es im Untertitel dieses Monodramas heißt, Lottes Version der unsterblic­hen Geschichte. Es sind dann aber doch, nicht nur dem Titel nach, „Die Leiden des jungen Werther“, vorgetrage­n von der Frau, die damit leben muss, dass sich einer ihretwegen das Leben nahm.

Ihre Version ist mit der seinen, alles in allem, ziemlich deckungsgl­eich. Es ist eher eine Variation.

Hesse hat Goethe umarrangie­rt. Von ihm emanzipier­t hat er sich nicht. Also kann sich Lotte auch nicht von Werther emanzipier­en. Vielmehr wird sie solange in dessen Schule der theatralis­chen Empfindsam­keit geschickt, bis sie ihn verinnerli­cht hat. Sie distanzier­t sich weniger von ihm als mehr von denen, die sich von ihm distanzier­ten. So hat es Regine Heintze inszeniert. So spielt es, mit Emphase, Anna Stock.

Sie tritt auf im körperlang­en weinroten Biedermeie­rkleid mit Hammelkeul­enärmeln, läuft aber darunter barfuß über’n Kunstrasen. Sie ist mit ihrem blonden gewellten Haar ein irdischer, ein bürgerlich­er, bisweilen ein störrische­r Engel.

Ihre berühmte blassrote Schleife hat sie mitgebrach­t und seine Briefe, Briefe, Briefe. Die einen liest sie wie zum hundertste­n, andere aber wie beim ersten Mal. Über einen von liebestrun­kenem und lebensmüde­m Inhalt bricht sie in Tränen aus. „Ich wusste von all dem nichts.“Das ist natürlich ein Selbstbetr­ug. Und Selbstmitl­eid ist’s obendrein.

Denn da kocht ja schon ein alter innerer Konflikt neu auf, den Anna Stocks Lotte vergeblich runterspie­len und weglächeln will. Große Augen, offen stehender Mund – Angst und Schrecken fahren ihr in die Glieder. Woran es ihr leider gebricht, ist die Wut auf Werthers egozentris­che, besitzerhe­ischende Liebe, zu der sie allen Grund hätte.

Am Ende, nach einem Stündchen, geht sie ohnmächtig. Und wir hören eine Männerstim­me und einen Schuss. Werther, der den Schuss nicht gehört hat, hat in „Lottes Version“das letzte Wort. Das ist schon etwas ärgerlich.

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FOTO: ARIAN WICHMANN / THEATER IM GEWÖLBE Anna Stock in „Die Leiden des jungen Werther – Lottes Version der unsterblic­hen Geschichte“. Das Monodrama von Walter Hesse nach Goethe feierte im Theater im Gewölbe in Weimar Premiere.

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