Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Lotte geht in Werthers Schule
Theater im Gewölbe: Walter Hesse arrangiert Goethes Roman für einen Frauenmonolog um
Weimar. Das Pathos fehlte dem Theater schon, als uns das Theater noch nicht fehlte. Nach Monaten totaler Stille ist beides plötzlich wieder da und wiedervereint zum Ort des Erlebens und der Leidenschaft.
Es handelt sich um eine ohnehin kleine, wie sie es nennen, KlassikBühne im Cranach-Haus: das Weimarer Theater im Gewölbe, dessen Kerngeschäft auch im zwanzigsten Jahr Stücke von, nach und über Goethe und Schiller sind. Es ist nun das erste weit und breit, das, seit einer Woche schon, wieder spielt.
Da kann man schon mal a priori pathetisch werden, sofern man hier etwas entbehrte. Jemand maskiert und demaskiert und markiert für uns mit Lust sein Inneres. Zeigt Gesicht und Gesichter, während wir die unseren verhüllen müssen.
Dreißig Zuschauer mit ganz vorschriftsmäßigem Mund-und NasenSchutz. Damit ist eine Vorstellung, die sonst mehr als das Dreifache vertrüge, in diesen Zeiten schon ausverkauft. Und das Privattheater, bislang durch jedes Raster einer Corona-Soforthilfe gefallen, kämpft derart weiter ums Überleben.
Das ist nicht Werthers Kampf. Lieber will der sich sterben sehen, als das, was er für die einzig wahre Liebe hält. Das alles gilt Lotte. Die, anderweitig bodenständig gebunden, stellt er auf den unerreichbar hohen Sockel: als seinen Engel, seine Göttin, Angebetete. „Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.“Goethes Werther liebt literarisch. Erich Kästner würde sagen: vegetarisch.
Was in Lotte vorging, lesen wir beim „Herausgeber“der Briefe an Wilhelm, „getrauen wir uns kaum mit Worten auszudrücken“. Walter Hesse (alias Detlef Heintze) traut sich. Manchmal. „Jaa, er war mir schon liebgeworden damals“, legt er ihr in den Mund. „Aber Liebe?“Und: „Seine Vergötterung gegenüber allem, was ich tat, war mir manchmal direkt unangenehm.“
Das ist, wie es im Untertitel dieses Monodramas heißt, Lottes Version der unsterblichen Geschichte. Es sind dann aber doch, nicht nur dem Titel nach, „Die Leiden des jungen Werther“, vorgetragen von der Frau, die damit leben muss, dass sich einer ihretwegen das Leben nahm.
Ihre Version ist mit der seinen, alles in allem, ziemlich deckungsgleich. Es ist eher eine Variation.
Hesse hat Goethe umarrangiert. Von ihm emanzipiert hat er sich nicht. Also kann sich Lotte auch nicht von Werther emanzipieren. Vielmehr wird sie solange in dessen Schule der theatralischen Empfindsamkeit geschickt, bis sie ihn verinnerlicht hat. Sie distanziert sich weniger von ihm als mehr von denen, die sich von ihm distanzierten. So hat es Regine Heintze inszeniert. So spielt es, mit Emphase, Anna Stock.
Sie tritt auf im körperlangen weinroten Biedermeierkleid mit Hammelkeulenärmeln, läuft aber darunter barfuß über’n Kunstrasen. Sie ist mit ihrem blonden gewellten Haar ein irdischer, ein bürgerlicher, bisweilen ein störrischer Engel.
Ihre berühmte blassrote Schleife hat sie mitgebracht und seine Briefe, Briefe, Briefe. Die einen liest sie wie zum hundertsten, andere aber wie beim ersten Mal. Über einen von liebestrunkenem und lebensmüdem Inhalt bricht sie in Tränen aus. „Ich wusste von all dem nichts.“Das ist natürlich ein Selbstbetrug. Und Selbstmitleid ist’s obendrein.
Denn da kocht ja schon ein alter innerer Konflikt neu auf, den Anna Stocks Lotte vergeblich runterspielen und weglächeln will. Große Augen, offen stehender Mund – Angst und Schrecken fahren ihr in die Glieder. Woran es ihr leider gebricht, ist die Wut auf Werthers egozentrische, besitzerheischende Liebe, zu der sie allen Grund hätte.
Am Ende, nach einem Stündchen, geht sie ohnmächtig. Und wir hören eine Männerstimme und einen Schuss. Werther, der den Schuss nicht gehört hat, hat in „Lottes Version“das letzte Wort. Das ist schon etwas ärgerlich.