Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Ein Franzose aus Gera
Generalmusikdirektor Laurent Wagner verabschiedet sich und hält ein bisschen Rückschau
Mit einem Lied nahm die Band City Abschied von Schlagzeuger Klaus Selmke.
Gera. Ein Kulturmensch, der Gera nur als Autobahnschild auf halbem Weg zwischen Weimar und Chemnitz wahrnimmt, weiß nicht, was er versäumt. Freimütig gesteht Laurent Wagner, dass es ihm lange Zeit ebenso ging; inzwischen weiß er es besser. Denn nun, nach sieben guten Jahren als Generalmusikdirektor, verlässt der weltläufige Franzose die Perle an der Weißen Elster – und staunt selbst immer noch über diese Erfahrung: „Dass eine solche, relativ kleine Stadt so ein Theater hat, ist heutzutage ein Wunder.“
Wir haben uns zum Plausch in einem Café verabredet und halten unterm Blätterdach im Garten gemütlich Rückschau. Gerade hat Wagner den 60. Geburtstag gefeiert und möchte, obschon er jetzt ins beste Dirigentenalter eintritt, seine Verpflichtungen reduzieren – zumindest die administrativen. Also scheidet er aus freien Stücken vom Amt und wählt der Familie zuliebe Leipzig als Lebensmittelpunkt. Nur als Gast stünde er bei Bedarf in Gera/Altenburg noch parat.
Dem Philharmonischen Orchester, ja dem ganzen Haus hat Wagner mit seiner Arbeit unendlich gut getan. Im Grunde knüpfte der sympathische Franzose, der nur prima vista einen altmodisch strengen Eindruck erweckt, bei Gabriel Feltz an. Dank seiner Erfahrung, dank kontinuierlich-beharrlichen Feilens und Polierens an der Klangkultur sind Krisen vergangener Tage verwunden; die Fusion in den 90er-Jahren ist nun überstanden. Wagner steht für leidenschaftlichen Leistungswillen und scheut, wenn es um die Kunst geht, den Streit keineswegs.
Lieber im Graben als im Rampenlicht
So war dieser Chef für die Musiker niemals bequem. Natürlich werde bei Proben manchmal auch gezankt, gesteht der Mann aus Lyon in akzentfreiem Deutsch. „Die unterschiedlichen Persönlichkeiten im Orchester zu achten und am Ende unbedingt ein gutes Ergebnis zu liefern: Das ist das Schwierige am Chefsein“, erklärt er. Gegenseitiger Respekt ist für ihn der Schlüssel in jedem Disput, um das Miteinander zu wahren. Denn oft seien es gerade die selbstbewussten Musiker im Klangkörper, die viel zu dessen Profil beitragen.
Diese dialektischen Zusammenhänge von Klang- und Streitkultur hat der Dirigent wider Willen von der Pike auf gelernt. Eigentlich habe er sich nie nach der Position vorne im Rampenlicht gesehnt, berichtet er. „Komponist wollte ich werden!“Wagner kommt ins Erzählen, und alsbald wird deutlich, wie wunderlich das Schicksal mit ihm verfuhr. Schon im Elternhaus hat der Neunjährige mit Klavierspielen begonnen, mit zwölf am Conservatoire wurde ihm die Geige als zweites Instrument ausgeredet; dafür sei er zu alt. Stattdessen Fagott.
Schnell lernt er ihn lieben: den Klang des doppelrohrblättrigen Holzbläsers französischer Bauart, der sich im Unterschied zum orchesterüblichen deutschen Pendant viel schlanker, eleganter entfaltet. Und dann gastiert das berühmte Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) aus Paris mit Workshops in Lyon, die absolute Instanz in Sachen zeitgenössischer Musik. Der junge Laurent nimmt teil – und sehr rasch Abstand vom Prinzip Boulez. „Meine Götter damals waren Messiaen, Schönberg und Berg“, gesteht er, „aber das war für mich kein Weg.“
Stattdessen entdeckt er die Oper. Studiert in Paris und in Wien und verbringt in der Habsburgermetropole Abend um Abend auf einem Stehplatz der Staatsoper. Er bemerkt, dass solche ersehnten Partien wie Tristan oder Otello für ihn als lyrischen Tenor nicht erreichbar wären. Also bleibt für einen, der mindestens mitmischen, am liebsten aber prägend gestalten will, nur der Weg ans Dirigentenpult.
„General“wider Willen
So ausgebildet, absolviert Wagner die klassische Ochsentour als Korrepetitor und Kapellmeister in Heidelberg, Gelsenkirchen, Wuppertal, Barcelona und Dortmund. „Mein Traum war es, Erster Kapellmeister in München oder Hamburg zu werden“, sagt er. „Doch schnell wurde mir klar: Wenn man in diesem Metier überleben will, muss man GMD werden.“Also wurde er es: 1994 in Saarbrücken und danach in St. Gallen. Als Chef des irischen Rundfunkorchester in Dublin dirigiert er in der Oper die irische Erstaufführung von Strauss’ „Salome“– „in der Stadt Oscar Wildes“, wie er mit Schmunzeln bemerkt.
„Im Graben bin ich glücklich, da bin ich in meinem Element“, frohlockt Wagner. Die geballte Emotion und dramatische Spannung auf der Bühne von der Position im Schatten aus zu erzeugen, zu formen: Darauf ist er absolut fokussiert.
Und dann nimmt Laurent Wagner die Autobahnabfahrt Gera. Bereut hat er es nie, weil er weiß wie ein Publikum in der vermeintlichen Provinz sich zu begeistern und auch zu entwickeln vermag. Sommers „Rübezahl“, Enescus „Oedipe“und Weinbergs „Passagierin“werden zu den größten, sogar überregional bemerkten Erfolgen des Hauses. Weit wichtiger indes sind dem Dirigenten „seine“Zuhörer vor Ort. Als Lackmustest für deren leidenschaftliches Interesse betrachtet Wagner die Werkeinführungen, die er gern selbst übernimmt: Die Größe dieses „harten Kerns“sei über die Jahre gewachsen, vermerkt er mit Genugtuung.
Dieser Tage verabschiedet er sich aus seinem mutmaßlich letzten Festengagement nicht mit einer Operngala, sondern coronabedingt mit einer Serie von Open-air-Serenaden. Haydn, Strawinsky, Tschaikowsky. „Das ist mindestens genauso schön“, behauptet er versöhnlich lächelnd. Denn die letzte „Station“bedeutet ja nicht das Karriereende. Sondern im Gegenteil: Freiheit.