Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Enttäuschungen auf dem Weg zur Einheit
Gastbeitrag Edelbert Richter war als Volkskammerabgeordneter 1990 dabei, als es um die 2+4-Verträge ging
Vor 30 Jahren wurde die deutsche Einheit verhandelt. Mit dabei war Edelbert Richter, SPD-Volkskammerabgeordneter seit März 1990. Das zweite Treffen der Außenminister war am 22. Juni 1990 in Berlin:
War es nicht die lang ersehnte und erstaunlich friedliche Verwirklichung der Einheit, an der ich mitwirken durfte? Dafür war ich dankbar. Die Kehrseite war die immer wieder aufkeimende Sorge, dass beim Vereinigungsprozess außenpolitisch noch etwas schiefgehen könnte. Aus der Friedensbewegung kommend, arbeitete ich im außenpolitischen Arbeitskreis der Fraktion mit und nahm als Parlamentsvertreter an den 2+4-Gesprächen teil.
Taktik und Ängste der Sowjetunion
Gerade durch den Verlauf dieser Verhandlungen im Juni bekam meine Sorge neue Nahrung. Die Sowjetunion war mit der Forderung in die 2+4-Gespräche gegangen, sie müssten zu einem Friedensvertrag oder zu einer ähnlich umfassenden Regelung aller die deutsche Vereinigung betreffenden Fragen führen. Sie wollte alles Mögliche in die Verhandlungen einbeziehen, was eigentlich durch die KSZE oder durch bilaterale Verträge des künftigen souveränen Deutschland hätte geregelt werden müssen. Sie bauschte das deutsche Problem sozusagen zum Weltproblem auf, was angesichts der zwei Weltkriege allerdings eine gewisse Berechtigung hatte. Dennoch war es ein sonderbarer Eindruck, die Vertreter der Sowjetunion mehr philosophieren als zielstrebig verhandeln zu sehen. Ihnen standen die Vertreter der USA, Englands, Frankreichs und der Bundesrepublik in geschlossener Front gegenüber, wobei wir uns allerdings erinnern müssen, dass England und Frankreich zunächst gegen die Wiedervereinigung waren! Dann aber wollten sie alle die Gespräche möglichst schnell abschließen und aus pragmatischen Gründen alle Fragen ausklammern, die nicht unmittelbar mit der Wiederherstellung der Souveränität Deutschlands zusammenhingen. Sie wehrten sich gegen jede „Singularisierung“der deutschen Frage, wie sie es nannten. Auch das war verständlich, denn wurde die böse Vergangenheit Deutschlands nicht am besten dadurch bewältigt, dass die Völkergemeinschaft seine Sonderrolle einfach nicht mehr ernst nahm und es als Land wie jedes andere behandelte? Mir erschienen diese gegensätzlichen Haltungen zunächst als treffende Illustration des Gegensatzes zwischen russischem und angelsächsischem Denken. Aber hinter der Haltung der Sowjetunion standen natürlich begreifliche Ängste angesichts der Wiedervereinigung Deutschlands und seiner Einbeziehung ins westliche Bündnis, zumal die Verhältnisse in der Sowjetunion selber immer labiler wurden. Ihren Vertretern blieb, wenn sie nicht in die alte Konfrontation zurückfallen wollten, angesichts der veränderten Machtlage wohl gar nichts anderes übrig als eine solche Verzögerungsstrategie.
Die Zukunft der Nato
Wir, die DDR-Delegation, wollten grundsätzlich auf eine Ablösung der Militärbündnisse durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem hinwirken. Wir sahen aber ein, dass ein solches System nicht derart rasch zustande kommen könne, wie der Vereinigungsprozess ablief.
Daher musste Deutschland, wenn es sicherheitspolitisch nicht in der Luft hängen sollte, für eine Übergangszeit Mitglied der Nato werden, aber einer veränderten Nato und mit einem Sonderstatus für das Gebiet der ehemaligen DDR.
Wir wollten, dass die Sowjetunion und ebenso Polen der deutschen Vereinigung nicht nur gezwungenermaßen, sondern aus Überzeugung zustimmen könnten, dass ihre Sicherheitsinteressen wirklich beachtet würden. Und wir befürchteten, dass sich die Sowjetunion angesichts der sehr weitgehenden Forderungen der westlichen Mächte stur stellen würde und die Gespräche sich ergebnislos hinziehen könnten. In der Tat führte die Verzögerungsstrategie der Sowjetunion wiederholt zu so langweilig-pedantischen Diskussionen um einzelne Formulierungen, dass ich mich an bestimmten exegetische Übungen in der Theologie erinnert fühlte. Die Strategie ging bei den Gesprächen auf Beamtenebene im Juni 1990 soweit, dass Herr Bondarenko, der Sitzungsleiter, die Zügel einfach schleifen ließ und einen Text studierte, sodass die hohen Beamten sich wie eine Schulklasse ohne Lehrer benahmen und jeder machte, was er wollte.
Schachzug beim zweiten Treffen
Beim zweiten Treffen der Außenminister am 22. Juni 1990 in Berlin legte die Sowjetunion dann ein Papier vor, das unsere Befürchtungen bestätigte und unsere Hoffnung bald vernünftige außenpolitische Rahmenbedingungen für die Vereinigung zu bekommen, zunichte machen konnte. Nach diesen „Grundprinzipien für eine ab-schließende völkerrechtliche Regelung mit Deutschland“sollte das Gebiet der ehemaligen DDR nach der Vereinigung noch fünf Jahre dem Warschauer Pakt zugehören und die sowjetische Armee so lange hier stationiert bleiben. Die Bundeswehr sollte nur westlich der Linie KielBremen-Frankfurt-HeilbronnStuttgart-Konstanz stationiert sein und die NVA östlich der Linie Rostock-Leipzig-Gera-Schleiz. Erst 21 Monate nach der Vereinigung sollte über die Beendigung der Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Mächte für Berlin und ganz Deutschland überhaupt verhandelt werden.
Experten meinten allerdings zu wissen, dass das sowjetische Grundsatzpapier gar nicht ernst zu nehmen sei, dass es nur ein Schachzug im Verhandlungsspiel darstellte – oder ein vorläufiges Zugeständnis an die alten Apparatschiks in der Parteiführung. Aber wer konnte das angesichts der Meldungen über die immer schwächer werdende Stellung Gorbatschows und Shewardnadses denn sicher sagen? Erst der Parteitag der KPdSU Anfang Juli 1990 würde in dieser Frage neue Erkenntnisse bringen.
Gorbatschow setzt sich durch
In der Tat hatte sich das Bild beim nächsten Außenministertreffen am 17. Juli 1990 in Paris völlig gewandelt. Gorbatschow war auf dem Parteitag als Generalsekretär mit großer Mehrheit wiedergewählt und Ligatschow als Stellvertreter nicht bestätigt worden. Die Reformer hatten sich also doch durchgesetzt. Schon zwei Tage nach dem Ende des Parteitags fanden die Gespräche zwischen Kohl und Gorbatschow in Schelesnowodsk statt, bei denen Gorbatschow überraschend Deutschland die volle Souveränität und seine mögliche Nato-Mitgliedschaft zugestand.
Ernüchternde Erfahrung
Diese Wendung der Dinge war für mich wieder eine ernüchternde Erfahrung, wenn auch keine überraschende mehr. Der Bundeskanzler hatte offenbar beschlossen, die entscheidende „historische Tat“allein zu vollbringen. So waren wir, als wir in Paris am Konferenztisch saßen, von der Bundesregierung über das Ergebnis der Gespräche in Schelesnowodsk noch nicht einmal informiert worden. Inhaltlich aber war die nun präsentierte Lösung so trivial, wie ich es nie erwartet hätte. Bis dahin hatte ich noch gehofft, aus den langen leidvollen Erfahrungen mit dem Kalten Krieg würde für die Menschheit mehr an politischem Gewinn herausspringen als das altbekannte Ergebnis, dass eben einer der Sieger ist und ein anderer der Verlierer. Wo blieb unsere Mittlerrolle zwischen West und Ost? Hatten wir mit unserem Ziel, eine gesamteuropäische Friedensordnung zumindest anzubahnen, von vornherein auf verlorenem Posten gestanden?
„Bundeskanzler Helmut Kohl hatte offenbar beschlossen, die entscheidende ,historische Tat‘ allein zu vollbringen.“Edelbert Richter, 1990 Volkskammerabgeordneter der SPD