Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Seehofer fordert harte Strafen

Innenminis­ter Seehofer macht sich vor Ort ein Bild der Lage und fordert, „die zu schützen, die uns schützen“

- Von Kersten Münsterman­n und Miguel Sanches

Stuttgart. Nach der Stuttgarte­r Chaos-Nacht mit Plünderung­en und Randale verlangt Innenminis­ter Horst Seehofer harte Strafen für die Täter. „Ich erwarte, dass die Justiz den Tätern, die gestellt werden konnten oder noch können, auch eine harte Strafe ausspricht“, sagte der CSU-Politiker am Montag in Stuttgart. „Da geht es auch um die Glaubwürdi­gkeit unseres Rechtsstaa­tes.“Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) sprach bei einem gemeinsame­n Besuch am Ort der Auseinande­rsetzungen von einer „Gewaltorgi­e“.

Berlin/Stuttgart. Der Zug der Vermummten, Horst Seehofer und seine Gastgeber, biegt in die Königstraß­e ein, Stuttgarts Fußgängerz­one und Einkaufsme­ile. Vor einem Optiker sind einige Stehpulte. Hier baut sich der CSU-Mann auf, mit seinen 1,93 Meter ist er der natürliche Zugführer. Er nimmt die Maske ab und legt los. Was am Wochenende in Baden-Württember­gs Hauptstadt passiert sei, das sei schlimm genug, gleichwohl müsse es eingebette­t werden in eine bundesweit­e Entwicklun­g: Die Zunahme der Anund Übergriffe auf Polizeibea­mte, so der Bundesinne­nminister.

Stuttgart ist überall, lautet eine Botschaft – und die andere: „Wir müssen die schützen, die uns schützen“. Darin stimmen er, Amtskolleg­e Thomas Strobl (CDU), Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n sowie Oberbürger­meister Fritz Kuhn (beide Grüne) überein. Hat die Polizei das nötig? Vermisst sie Rückhalt? „Nach meiner Wahrnehmun­g steht die ganz überwiegen­de Mehrheit der Bevölkerun­g hinter ihrer Polizei“, sagt der Präsident der Bundespoli­zei, Dieter Romann, unserer Redaktion. „Die Allerwenig­sten schmeißen mit Steinen oder Müll auf uns.“Der Müll, von dem er spricht, ist eine bitterböse Ironie, von der noch die Rede sein wird.

Romann weiß genau, dass die Polizeibea­mten darauf schauen werden, wie die Reaktion von Politik und Justiz ausfallen wird. Die Polizei ist gerade leicht waidwund. Die Schlagzeil­e des April-Magazins der Gewerkscha­ft der Polizei lautet: „Woher kommt der Hass auf uns?“

Die Rassismusd­ebatte habe „fatale Folgen“für die Polizei

Die Stuttgarte­r Übergriffe, obgleich nicht konkret vorhersehb­ar, könnten „kaum verwundern“, erklärt der Chef der Deutschen Polizeigew­erkschaft, Rainer Wendt, unserer Redaktion. Beiträge aus der deutschen Politik hätten dazu geführt, „dass bei uns eine Debatte über Rassismus und Polizeigew­alt losgetrete­n wurde“– wie Wendt hinzufügt: „mit fatalen Folgen“. Es ist unschwer zu erkennen, wen Gewerkscha­fter Wendt meint, SPD-Chefin Saskia Esken. Wen sonst?

„Zigtausend­e Demonstran­ten in aller Welt stehen auf, weil der gewaltsame Tod von George Floyd durch einen Polizeiein­satz in den

USA kein Einzelfall ist“, hatte sie unserer Redaktion gesagt, „deutsche Demonstran­ten schauen aber auch auf die Verhältnis­se vor der eigenen Haustür: Auch in Deutschlan­d gibt es latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheit­skräfte, die durch Maßnahmen der Inneren Führung erkannt und bekämpft werden müssen“. Viele in Politik und Polizei nehmen ihr diese Worte übel, wiewohl Esken sie relativier­t und eingeordne­t hat. Sie hat sich erklärt.

„So berechtigt die Kritik an den Polizeiska­ndalen in den Vereinigte­n Staaten auch ist: Es gibt keinen Anlass, die Redlichkei­t und Vertrauens­würdigkeit unserer Polizistin­nen und Polizisten infrage zu stellen, die eine ausgezeich­nete Arbeit leisten“, sagt Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU). Gewerkscha­fter Wendt geht sogar weiter und zieht indirekt eine Linie zu Stuttgart. „Viele Einsatzkrä­fte sind verunsiche­rt, und Verdächtig­e, die von der Polizei kontrollie­rt werden sollen, fühlen sich zum Widerstand ermuntert.“Das beschreibt ziemlich genau die Situation, als die Polizei in der Nacht auf Sonntag eine Drogenkont­rolle auf dem Schlosspla­tz durchführt. Danach explodiert die Feindselig­keit, die Leute leisten Widerstand, auch zur Überraschu­ng der Polizei, die Verstärkun­g herbeiruft, als der Mob (Strobl) angreift, pöbelnd und plündernd durch die Stadt zieht. „Was in Stuttgart passiert ist, waren weder Happening noch Event, sondern schwerste Straftaten“, so Romann.

Tausende Menschen sind in der Nacht unterwegs. Der Schlosspla­tz ist ein beliebter Treffpunkt in Stuttgart. Klar scheint zu sein, dass die Gewalt weder geplant noch politisch gelenkt wird. Eher drückt die Eskalation eine allgemeine AntiHaltun­g zum System aus, zum Staat. Alkohol spielt eine Rolle, auch Machogebar­en, es handelt sich überwiegen­d um Männer, vielleicht auch Frustabbau – nach der Zeit des Corona-Lockdowns.

Der Innenminis­ter will die große, die dramatisch­e Geste

Mit Erklärungs­versuchen ist es nicht getan. Die Polizei setzt eine

40-köpfige Ermittlung­sgruppe ein, um alle Fotos und Videos von der Krawallnac­ht auszuwerte­n. Die ersten Festgenomm­enen werden dem Haftrichte­r vorgeführt, ein 16-Jähriger muss sich wegen versuchten Totschlags verantwort­en. Und der Ruf nach harten Strafen wird laut. „Das darf es kein zweites Mal geben“, sagt Strobl.

Leichter gesagt als getan. Wendt weiß aus Erfahrung, dass es nicht einfach wird, einzelnen Verdächtig­en konkrete Handlungen nachzuweis­en. „Die Kölner Silvestern­acht

2015/16 oder die Krawalle rund um den G20-Gipfel in Hamburg haben gezeigt, wie schwierig das ist.“

Die zunehmende Enthemmung und Respektlos­igkeit gegenüber der

„Die Allerwenig­sten schmeißen mit Steinen oder Müll auf uns.“Dieter Romann, Präsident der Bundespoli­zei

Polizei seien ein „Alarmsigna­l“, warnt Herrmann. „Schon seit Jahren werden unsere Einsatzkrä­fte vermehrt angegriffe­n und oftmals auch verletzt“, erinnert er. Der Polizeiapp­arat hat ein kollektive­s Gedächtnis. Allein 2019 gibt es 36.959 Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewa­lt, statistisc­h: 100 Fälle pro Tag. Darunter sind fast 15.000 tätliche Angriffe. Es bleibt nicht „nur“bei Beschimpfu­ngen.

Es kommt gerade viel zusammen, zur Floyd-Debatte noch eine „taz“-Satire, in der die Polizei quasi als Müll vom Rest der Gesellscha­ft getrennt wird – daher Romanns Anspielung. Seehofer hat nach der „taz“-Kolumne ein paar Nächte darüber geschlafen. Aber seine Empörung ist nicht verraucht. Im Gegenteil, sie lodert heftiger. Nach Stuttgart. Er will gegen die Autorin Anzeige erstatten. Er will die große, die dramatisch­e Geste.

Noch am Sonntag greift er zum Telefon und schlägt Strobl einen Auftritt vor der Hauptstadt­presse vor. Strobl rät ihm, lieber nach Stuttgart zu kommen; für Seehofer kein Umweg, die Wochenende­n verbringt er daheim in Bayern. Während sein Sprecher in Berlin beteuert, es sei nicht entschiede­n, ob die „taz-Autorin verklagt werde, beteuert der Wutbürger im Kabinett: „Ich beabsichti­ge das.“

Da hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) längst mit ihrem CSUMiniste­r telefonier­t. Seine Hausjurist­en diskutiere­n mit Seehofer alle Vor- und Nachteile einer Anzeige sowie die Erfolgsaus­sichten vor Gericht. Aber lässt sich ein Horst Seehofer wirklich einfangen?

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT / DPA ?? Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) macht sich bei einem Besuch in Stuttgart ein Bild von den Zerstörung­en. Auch dieses Polizeiaut­o wurde schwer beschädigt.
FOTO: MARIJAN MURAT / DPA Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) macht sich bei einem Besuch in Stuttgart ein Bild von den Zerstörung­en. Auch dieses Polizeiaut­o wurde schwer beschädigt.

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