Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Angst vor der zweiten Welle
Mit dem Ferienbeginn in NRW wächst die Sorge, dass sich das Coronavirus weit über die Region Gütersloh ausbreitet
Berlin. Ende der Woche geht in Nordrhein-Westfalen ein denkwürdiges Schuljahr zu Ende. Es ist wie überall sonst in Deutschland von der Pandemie geprägt. Nun steht für viele der Urlaub vor der Tür. Doch was den Landkreis Gütersloh in Ostwestfalen anbelangt, blicken viele mit Sorge auf den Beginn der Sommerferien. Die Region hat sich nach dem Corona-Ausbruch im Großschlachtbetrieb Tönnies zum neuen Hotspot entwickelt. Die örtlichen Behörden haben bis Montag 1553 Infizierte registriert. In den vier Krankenhäusern im Landkreis wurden am Sonntag 21 Covid-19-Patienten stationär behandelt. Für rund
7000 Menschen wurde Quarantäne angeordnet. Im gesamten Kreis Gütersloh sind Schulen und Kindergärten vorsorglich geschlossen.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) schließt einen Lockdown in der Region zwar weiter nicht aus. Der Regierungschef sprach aber zuletzt von einem lokalen Infektionsherd. Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery ist da anderer Auffassung. Angesichts solchen Zahlen von Infizierten und Menschen in Quarantäne „und zum Teil 40 Kilometern zwischen den Wohnorten der Betroffenen kann man nicht mehr von einem lokalen Ausbruch sprechen“, sagt er unserer Redaktion. Er bezweifle stark, ob hier noch lokale Maßnahmen zur Eindämmung ausreichend seien.
Viele treibt zudem die Frage um, was passiert, wenn sich Infizierte aus der Region mit ihren Familien in den Urlaub aufmachen. Wird sich der Erreger auf diese Weise über Deutschland und womöglich an den Ferienzielen im Ausland ausbreiten? Es würde womöglich den Beginn einer zweiten Corona-Welle markieren.
Wegen der hohen Zahl der Neuinfektionen rund um den TönniesSchlachthof rückt erneut die sogenannte Reproduktionszahl, kurz RWert, ins Zentrum. Dieser Wert trifft eine Aussage darüber, wie schnell sich das Virus ausbreitet. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) stieg der R-Wert zuletzt auf 2,88, während er am Vortag bei 1,79 lag. Das bedeutet übersetzt, dass ein Infizierter nun im Mittel zwischen zwei und drei weitere Menschen ansteckt. Der Anstieg hängt laut RKI insbesondere mit dem lokalen Ausbruch in NRW zusammen. „Da die Fallzahlen in Deutschland insgesamt auf niedrigem Niveau liegen, beeinflussen diese lokalen Ausbrüche den Wert der Reproduktionszahl relativ stark“, heißt es vom RKI. Deutschlandweit wurden 537 Neuinfektionen binnen eines Tages gemeldet.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnte bereits vor einem Übergreifen des Ausbruchs im Kreis Gütersloh auf ganz Deutschland. „Jetzt gilt es, jeden regionalen Ausbruch umgehend einzudämmen und die Infektionsketten zu unterbrechen“, sagte Spahn. Ähnlich sieht es SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. „Ich sehe die Gefahr, dass es in der bevorstehenden Reisesaison zu einer großflächigen Ausbreitung des Virus kommt“, sagte Lauterbach unserer Redaktion, „aus meiner Sicht wäre ein Lockdown in allen betroffenen Landkreisen die richtige Vorgehensweise.“In der Bevölkerung müssten gezielte Corona-Stichproben genommen werden, um einen Überblick zu bekommen, wie viele Menschen positiv seien und wie viele bereits Antikörper gebildet haben. „Wenn man das nicht macht, laufen wir Gefahr, dass sich das Virus aus den Städten heraus auf ganz Deutschland verteilt, da bald Sommerferien sind und die Reisesaison beginnt“, warnt Lauterbach.
Auch der CDU-Abgeordnete Erwin Rüddel, zugleich Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Bundestag, plädiert für ein Herunterfahren des öffentlichen Lebens. „Ein regionaler Lockdown kann tatsächlich sinnvoll sein“, sagte Rüddel unserer Redaktion. Der Fleischindustrie gibt er zugleich eine Mitverantwortung an der derzeitigen Lage. „Die Gesundheit der Bevölkerung ist wichtiger als der Zugang zu billigem Fleisch“, kritisiert er.
Lauterbach sieht indes vor allem die Politik in NRW in der Pflicht: „Die Reaktionen auf den größten Corona-Ausbruch sind seit Langem zu zögerlich“, sagt der SPD-Politiker. Es sei seit Langem klar, dass in Fleischbetrieben die Gefahr von Ausbrüchen des Virus extrem hoch sei. „Trotzdem lässt die Politik zu, dass in den Schlachthöfen riesige Infektionsketten entstehen. Das zeigt, dass die Kontrolle hinten und vorne nicht funktioniert. Es ist politisches Versagen“, kritisierte Lauterbach. Zudem habe sich die Politik zu lange auf Zusicherungen von Konzernchef Clemens Tönnies verlassen, „das war ein Fehler“.
Im Kreis Gütersloh wurden am Montag weitere Abstriche von Tönnies-Mitarbeitern sowie von Angehörigen genommen, die im selben Haushalt wohnen. Erneut waren mobile Teams unterwegs, um Proben zu nehmen und den in Quarantäne befindlichen Menschen Unterstützung anzubieten. Rund 40 Mitarbeiter der Bundeswehr unterstützen die derzeitigen Corona-Reihentests.