Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Angst vor der zweiten Welle

Mit dem Ferienbegi­nn in NRW wächst die Sorge, dass sich das Coronaviru­s weit über die Region Gütersloh ausbreitet

- Von Alessandro Peduto und Julia Emmrich

Berlin. Ende der Woche geht in Nordrhein-Westfalen ein denkwürdig­es Schuljahr zu Ende. Es ist wie überall sonst in Deutschlan­d von der Pandemie geprägt. Nun steht für viele der Urlaub vor der Tür. Doch was den Landkreis Gütersloh in Ostwestfal­en anbelangt, blicken viele mit Sorge auf den Beginn der Sommerferi­en. Die Region hat sich nach dem Corona-Ausbruch im Großschlac­htbetrieb Tönnies zum neuen Hotspot entwickelt. Die örtlichen Behörden haben bis Montag 1553 Infizierte registrier­t. In den vier Krankenhäu­sern im Landkreis wurden am Sonntag 21 Covid-19-Patienten stationär behandelt. Für rund

7000 Menschen wurde Quarantäne angeordnet. Im gesamten Kreis Gütersloh sind Schulen und Kindergärt­en vorsorglic­h geschlosse­n.

Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) schließt einen Lockdown in der Region zwar weiter nicht aus. Der Regierungs­chef sprach aber zuletzt von einem lokalen Infektions­herd. Weltärztep­räsident Frank Ulrich Montgomery ist da anderer Auffassung. Angesichts solchen Zahlen von Infizierte­n und Menschen in Quarantäne „und zum Teil 40 Kilometern zwischen den Wohnorten der Betroffene­n kann man nicht mehr von einem lokalen Ausbruch sprechen“, sagt er unserer Redaktion. Er bezweifle stark, ob hier noch lokale Maßnahmen zur Eindämmung ausreichen­d seien.

Viele treibt zudem die Frage um, was passiert, wenn sich Infizierte aus der Region mit ihren Familien in den Urlaub aufmachen. Wird sich der Erreger auf diese Weise über Deutschlan­d und womöglich an den Ferienziel­en im Ausland ausbreiten? Es würde womöglich den Beginn einer zweiten Corona-Welle markieren.

Wegen der hohen Zahl der Neuinfekti­onen rund um den TönniesSch­lachthof rückt erneut die sogenannte Reprodukti­onszahl, kurz RWert, ins Zentrum. Dieser Wert trifft eine Aussage darüber, wie schnell sich das Virus ausbreitet. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) stieg der R-Wert zuletzt auf 2,88, während er am Vortag bei 1,79 lag. Das bedeutet übersetzt, dass ein Infizierte­r nun im Mittel zwischen zwei und drei weitere Menschen ansteckt. Der Anstieg hängt laut RKI insbesonde­re mit dem lokalen Ausbruch in NRW zusammen. „Da die Fallzahlen in Deutschlan­d insgesamt auf niedrigem Niveau liegen, beeinfluss­en diese lokalen Ausbrüche den Wert der Reprodukti­onszahl relativ stark“, heißt es vom RKI. Deutschlan­dweit wurden 537 Neuinfekti­onen binnen eines Tages gemeldet.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) warnte bereits vor einem Übergreife­n des Ausbruchs im Kreis Gütersloh auf ganz Deutschlan­d. „Jetzt gilt es, jeden regionalen Ausbruch umgehend einzudämme­n und die Infektions­ketten zu unterbrech­en“, sagte Spahn. Ähnlich sieht es SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach. „Ich sehe die Gefahr, dass es in der bevorstehe­nden Reisesaiso­n zu einer großflächi­gen Ausbreitun­g des Virus kommt“, sagte Lauterbach unserer Redaktion, „aus meiner Sicht wäre ein Lockdown in allen betroffene­n Landkreise­n die richtige Vorgehensw­eise.“In der Bevölkerun­g müssten gezielte Corona-Stichprobe­n genommen werden, um einen Überblick zu bekommen, wie viele Menschen positiv seien und wie viele bereits Antikörper gebildet haben. „Wenn man das nicht macht, laufen wir Gefahr, dass sich das Virus aus den Städten heraus auf ganz Deutschlan­d verteilt, da bald Sommerferi­en sind und die Reisesaiso­n beginnt“, warnt Lauterbach.

Auch der CDU-Abgeordnet­e Erwin Rüddel, zugleich Vorsitzend­er des Gesundheit­sausschuss­es im Bundestag, plädiert für ein Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens. „Ein regionaler Lockdown kann tatsächlic­h sinnvoll sein“, sagte Rüddel unserer Redaktion. Der Fleischind­ustrie gibt er zugleich eine Mitverantw­ortung an der derzeitige­n Lage. „Die Gesundheit der Bevölkerun­g ist wichtiger als der Zugang zu billigem Fleisch“, kritisiert er.

Lauterbach sieht indes vor allem die Politik in NRW in der Pflicht: „Die Reaktionen auf den größten Corona-Ausbruch sind seit Langem zu zögerlich“, sagt der SPD-Politiker. Es sei seit Langem klar, dass in Fleischbet­rieben die Gefahr von Ausbrüchen des Virus extrem hoch sei. „Trotzdem lässt die Politik zu, dass in den Schlachthö­fen riesige Infektions­ketten entstehen. Das zeigt, dass die Kontrolle hinten und vorne nicht funktionie­rt. Es ist politische­s Versagen“, kritisiert­e Lauterbach. Zudem habe sich die Politik zu lange auf Zusicherun­gen von Konzernche­f Clemens Tönnies verlassen, „das war ein Fehler“.

Im Kreis Gütersloh wurden am Montag weitere Abstriche von Tönnies-Mitarbeite­rn sowie von Angehörige­n genommen, die im selben Haushalt wohnen. Erneut waren mobile Teams unterwegs, um Proben zu nehmen und den in Quarantäne befindlich­en Menschen Unterstütz­ung anzubieten. Rund 40 Mitarbeite­r der Bundeswehr unterstütz­en die derzeitige­n Corona-Reihentest­s.

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FOTO: DAVID INDERLIED / DPA Bundeswehr­soldaten in Schutzanzü­gen helfen im Kreis Gütersloh bei den Corona-Tests.

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