Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Forscher sehen soziale Medien als treibende Kraft
Eskalation am Wochenende: Auch Alkohol und Feindbilder sind Hintergründe – sowie das Wetter
Berlin. Entsetzte Bürger, überrumpelte Polizei: Ausgerechnet in der Herzkammer schwäbischer Bürgerlichkeit hat mit Exzessen wie jenen aus der Nacht vom Samstag wohl niemand gerechnet. Politiker und Gewerkschafter sehen deshalb eine neue Qualität in den Krawallen von Stuttgart. Doch völlig neu sind Szenen wie die vom Wochenende nicht, sagen Wissenschaftler.
Für eine Eskalation, wie sie sich um den Schlossplatz herum abgespielt hat, müssen mehrere Faktoren zusammenkommen, erklärt Wilhelm Heitmeyer, Konfliktforscher von der Universität Bielefeld. Ein Ereignis wie die Drogenkontrolle, die laut Polizei am Anfang der Krawalle stand, diene als „emotional ausbeutbares Signalereignis“– ein Auslöser dafür, dass sich Unbeteiligte solidarisieren mit der kontrollierten Person. Bei diesen Menschen müsse dabei ein Feindbild vorhanden sein, „in diesem Fall die Polizei als Repräsentanten eines verhassten Kontrollstaates“, so Heitmeyer im Gespräch mit unserer Redaktion. Sich selbst sähen die Beteiligten dabei in einer Opferrolle.
Eine entscheidende Rolle spielten die sozialen Medien – über sie würden sich Mobilisierungseffekte ergeben, durch die die Zahl der beteiligten Personen rasch wachse. „Da entsteht schnell eine kritische Masse, auf die die Polizei nicht vorkohol
bereitet ist.“Gleichzeitig diene die Verbreitung von Videos der Selbstinszenierung: Zumindest in ihrer Bezugsgruppe könnten die Randalierer damit Anerkennung ernten.
Viele Details zu den Ereignissen seien aber noch unbekannt, so Heitmeyer. „Die Frage stellt sich, wie notwendig es war, in ein durch Alentgrenztes Verhalten einer Menge einzuschreiten wegen einer Drogenkontrolle“, so Heitmeyer.
Auch der Polizeiforscher und Kriminologe Rafael Behr, der unter anderem an der Akademie der Polizei lehrt, warnt davor, die Krawalle als Zeichen des völligen Kontrollverlusts zu interpretieren. „Ich glaube, dass das eine spontane Reaktion war“, sagt Behr unserer Redaktion, „eine Äußerung von ekstatischer, als lustvoll empfundener Gewalt, wie im Rausch.“In der Kombination aus gutem Wetter, einer Ansammlung von vor allem jüngeren Männern mit Alkohol, Musik und dem Gefühl, etwas erleben zu können, könnten sich solche Szenen durchaus ergeben.