Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Transparenzregister nicht in Sicht
CDU kritisiert fehlende Antwortbereitschaft. Sozialministerium verweist auf Berliner Vorbild
Erfurt. Kommt das Transparenzregister für Managergehälter von Wohlfahrtsunternehmen? Thüringens Sozialministerin Heike Werner (Linke) steht der Einrichtung einer solchen Datenbank offenbar positiv gegenüber. Eine Sprecherin verweist darauf, dass im Rahmen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz seit 2017 in einer temporären Arbeitsgruppe daran gearbeitet werde, Inhalte zu definieren. Vorbild sei dabei das Land Berlin. Empfehlungen
der Konferenz liegen seit 2018 auf dem Tisch. „Thüringen hat diesem Vorschlag zugestimmt und unterstützt das Vorhaben“, erklärte die Ministeriumssprecherin.
Im Zuge des Thüringer AwoSkandals sind Forderungen nach einem Transparenzregister immer lauter geworden. Zunächst hatten die Grünen sich im Januar dafür ausgesprochen. Fast zeitgleich schloss sich die SPD an. Zuletzt hatte die oppositionelle CDU das Thema forciert und im Sozialausschuss im Rahmen eines Selbstbefassungsantrages
erfragen wollen, wie es um die Einrichtung einer solchen Datenbank steht. „Die Fragen wurden nicht ausreichend beantwortet“, sagt der sozialpolitische Sprecher der Fraktion, Thaddäus König. Schon beim ersten Selbstbefassungsantrag der Union im Januar zu dem Thema sei nicht ausreichend geantwortet worden.
Aus dem Sozialministerium gibt es auf Anfrage dieser Zeitung keine konkrete Antwort zur Frage, wie weit mögliche Planungen oder Entwürfe zur Einrichtung einer Transparenzdatenbank
bereits gediehen sind. Die Vorwürfe gegen die Awo AJS – über Jahre haben dort Manager Gehälter erhalten, die den Richtlinien des Wohlfahrtsverbandes zuwiderlaufen – „wiegen schwer“, heißt es aus dem Ministerium – verbunden mit der Forderung nach Aufklärung und Transparenz. Dazu müssten, sagt die Sprecherin, geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Ob ein Transparenzregister aus Sicht des Sozialministeriums eine solche Maßnahme sein könnte, dazu sagt sie nichts.
Es ist der 12. Dezember 2019. Michael Hack (64) schreibt eine EMail, wie es für ihn und die 1993 gegründete Alten-, Jugend- und Sozialhilfe gGmbH (AJS) im neuen Jahr weitergehen soll. Der Geschäftsführer der Tochtergesellschaft der Thüringer Arbeiterwohlfahrt will am nächsten Tag seinen dreiwöchigen Urlaub antreten. Wie immer geht es über Weihnachten und Silvester nach Sri Lanka: gutes Essen, mildes Klima, Wellness. Vor der Abreise aber will Hack verkünden, dass für die AJS-Geschäftsführung in einem – wie er meint – fairen und transparenten Verfahren eine Nachfolgerin gefunden wurde, er selbst aber trotzdem zwei Jahre länger als geplant im Unternehmen zu bleiben gedenkt. Denn die künftige Nachfolgerin, Antje Wolf (53), Ex-Geschäftsführerin eines kleinen Buchverlags, sei zwar die beste der 45 Bewerberinnen und Bewerber um den Posten gewesen. Doch da die Einarbeitung externer Bewerber mehr Zeit benötige, „um sich in der Awo AJS auszukennen“, seien die Gesellschaftervertreter an ihn, Hack, mit der Frage herangetreten, seine Beschäftigungszeit zu verlängern. „Ich habe dieses sehr intensiv in meiner Ehe diskutiert, meine Frau war nicht begeistert, kennt aber meine Beziehung zur AJS und hat schließlich der Verlängerung meiner Beschäftigungszeit bis zum 31. 12. 2022 zugestimmt“, schreibt Hack weiter. Der Vertrag sei bereits unterzeichnet. Hacks Mail an den AJS-Aufsichtsrat, die Einrichtungsleiter und die Mitarbeiter in den Geschäftsstellen schließt mit guten Wünschen für „ein friedliches Weihnachtsfest und einen guten Start in 2020“.
Mit keiner Silbe erwähnt
Hack, dass mit der Nachfolge-Regelung eine wichtige Personalie einherging: Nur einen Tag später händigen Anwälte einem von Hacks engsten Mitarbeitern, dem AJS-Prokuristen Uwe Kramer (55), die Kündigung aus. Das, was Hack Kramer schon einige Tage vorher angekündigt hatte, wird nun Realität: Der Prokurist muss das Unternehmen auf der Stelle verlassen, auch die Schlüssel sofort abgeben. Nur wenige Tage vor Weihnachten wirft Hack einen seiner Getreuen nach 26 Jahren im Unternehmen raus.
Doch was hat sich Kramer zuschulden kommen lassen? In die Portokasse gegriffen? Eine falsche Spesenabrechnung eingereicht? Nichts dergleichen. Kramer, bis dahin bei der AJS für alle Personalfragen zuständig und außerdem Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes der Awo Thüringen, hat sich nicht nur um einen der beiden Geschäftsführerposten beworben. Er es auch gewagt, sich in einem Brief an den AJS-Aufsichtsrat über das Besetzungsverfahren zu beklagen – darüber, dass eine Bewerberin ohne Erfahrungen im Sozialbereich das Rennen gemacht hatte. Dabei ist die AJS gGmbH mit mehr als 200 Pflegeheimen, Kindergärten und anderen Einrichtungen sowie mehr als 5000 Beschäftigten längst ein riesiges Unternehmen auf dem sozialen Sektor in Thüringen.
Als Hack von Kramers Brief erfährt, ist er außer sich. In seinen Augen ist das eine Art Majestätsbeleidigung. Zugleich liefert ihm der Vorfall endlich den willkommenen Anlass, Kramer loszuwerden. Denn das will Hack schon länger. Er kündigt Kramer fristlos und ohne Kenntnis der Aufsichtsgremien – und begeht damit einen folgenschweren Fehler: Denn über diese Personalie wird er letztlich auch selbst stolpern.
Doch zunächst fliegt
Hack nach Sri Lanka. Dass sich die Nachricht vom Rauswurf Kramers wie ein Lauffeuer unter der Belegschaft der AJS verbreitet und sich viele Mitarbeiter mit Blick auf Kramers langjährige Betriebszugehörigkeit fragen, wie ein Unternehmen in der Sozialwirtschaft das so kurz vor Weihnachten fertig bringt, wird Hack zwar zugetragen. Doch die Brisanz erkennt der AJS-Chef erst, als am 23. Dezember eine Anfrage dieser Zeitung an die Awo geht: Stimmt es, dass Kramer gekündigt wurde? Aus welchem Grund? Ist es richtig, dass ihm eine sehr hohe Abfindungssumme gezahlt werden soll, damit er keine Interna ausplaudert?
Nun glühen zwischen Erfurt und Sri Lanka die Drähte. Das Weihnachtsfest verschafft Hack, seinem Pressesprecher und einem eigens eingekauften Experten für Krisenkommunikation aus Berlin zwar zeitlich ein bisschen Luft. Aber allen ist klar, dass sie die Anfrage spätestens nach den Feiertagen beantworten müssen. Immerhin: Der AJS-Sprecher bestätigt den Rauswurf Kramers, genauso wie Gespräche über einen Vergleich mit ihm und Hacks Vertragsverlängerung. Zu den Gründen für Kramers Kündigung sagt er aber nichts. Es handele sich um „vertrauliche Personalangelegenheiten“, so die fast immer in derlei Fällen genutzte Formulierung. Und was Hacks Gehalt angeht: Es sei 2017 von einer durch den AwoBundesverband beauftragten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft unter die Lupe genommen und von dieser nicht beanstandet worden.
Als diese Zeitung den Satz Anfang Januar zitiert und im Zusammenhang mit der Personalie über die neuen Vorwürfe gegen die AJSSpitze berichtet, ist auch der Bundesverband aufgeschreckt: Nicht nur, weil er neben dem Awo-Skandal in Frankfurt (Main) und Wiesbaden einen neuerlichen schweren Imageschaden für den Sozialverband befürchtet. Die Bundesspitze ärgert sich auch über die Behauptung, sie beziehungsweise die von ihr beauftragten Wirtschaftsprüfer hätten 2017 nichts zu bekritteln gehabt. Doch das hatte sie: Als der Bundesverband den Thüringer Landesverband und die AJS schon einmal prüfte, nachdem im Sommer 2016 bei der Staatsanwaltschaft Erfurt eine anonyme Strafanzeige gegen die Thüringer Awo eingegangen war, wurden etliche Verstöße gegen Awo-Verbandsrichtlinien festgestellt und die Thüringer aufgefordert, für Abhilfe zu sorgen.
Nun aber, im Januar 2020, scheint dem Bundesverband zu dämmern, dass die Thüringer Awo- und AJS-Spitze mitnichten daran dachte, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Bundesvorsitzender Wolfgang Stadler kündigt deshalb in einem Schreiben an alle Bezirks- und Landesverbände sowie das Präsidium an, „das Thema ,Bezahlung von Führungskräften‘ in den nächsten Wochen in den Mittelpunkt unserer Aktivitäten stellen und dabei auch überprüfen“zu wollen, wie die Vorgaben der AwoVergütungsrichtlinien „transparent und glaubhaft umgesetzt werden können“. Zu diesem Zeitpunkt ist Stadler noch davon überzeugt, dass die Vertragsverlängerung, von der AJS-Chef Michael Hack vor Weihnachten seine Mitarbeiter unterrichtet, „kodexkonform eingruppiert wurde“.
Aufgeschreckt ist jetzt erst recht Michael Hack: Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Südasien verfasst er einen Brief an die „lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der AJS“und nennt darin die jüngsten Berichte dieser Zeitung einen „trüben Mix aus Erfindung, Halbwahrheiten und Polemik“. In Bezug auf sein Gehalt stellt er fest: „Als Geschäftsführer von einem Unternehmen, das sich seit 26 Jahren so erfolgreich entwickelt wie die AJS, habe ich in diesen Gesprächen (gemeint sind die Gehaltsverhandlungen mit den Gesellschaftern der AJS – Anmerkung der Redaktion) natürlich eine gute Position.“Jeder könne sich denken, dass er gut verdiene.
Das Grummeln an der Basis, also unter den Awo-Mitgliedern und den Beschäftigten in den Ortsvereinen und den 18 Kreis- und Regionalverbänden, wird lauter. Nun kann auch der ehrenamtlich tätige Thüringer Awo-Landesvorstand das Problem nicht länger aussitzen: Am 12. Januar, einem Sonntag, kommt das Gremium in Erfurt zusammen und beschließt, die Gesellschafterversammlung der AJS mit der Prüfung der Manager-Gehälter zu beauftragen. Dabei solle ihn der Bundesvorstand unterstützen. In der Presseerklärung, die noch am selben Abend herausgegeben wird, wird allerdings erneut behauptet, dass bei den Gehältern kein Verstoß gegen Awo-interne Regelungen vorliegt.
Nur neun Tage später dann der erste Paukenschlag: Weil der Druck auf ihn weiter steigt, verkündet Michael Hack, dass er nun doch schon Ende 2020 in den Ruhestand gehen wird. Er wolle, lässt er die Belegschaft wissen, mit diesem Schritt die mediale Diskussion „um meine Person und die AJS versachlichen“. Dass er damit den Verdacht nährt, dass an den Vorwürfen gegen ihn nicht nur etwas dran ist, sondern noch viel mehr im Argen liegt, scheint ihm nicht bewusst zu sein.
Ende Januar veröffentlicht diese Zeitung dann einen Bericht über die personellen Verflechtungen bei der Thüringer Awo und ihren Beteiligungsgesellschaften, der zweierlei verdeutlicht. Erstens: Es gibt zahlreiche finanzielle und emotionale Abhängigkeiten innerhalb der Thüringer Awo und der AJS. Beispielsweise sind die AJSEinrichtungsleiter dazu angehalten, bei der Objektausstattung das externe Einrichtungsunternehmen von Matthias Löffler in Erfurt zu favorisieren. Löffler ist aber auch stellvertretender Vorsitzender im AwoKreisverband Gotha, der wiederum von Hacks Ehefrau Petra KöllnerHack geführt wird. Außerdem arbeitet Löffler mit Inneneinrichterin Elvira Diebold zusammen, die sowohl Mitglied des Awo-Landesvorstandes als auch Vorsitzende des Kreisverbandes Erfurt ist.
Der Bericht zeigt zudem zweitens: Die mit Ehrenamtlern besetzten Kontrollgremien sind teils wegen dieser Abhängigkeiten nicht willens und teils mangels Sachkenntnis auch nicht dazu in der Lage, ihren Aufgaben wirklich gerecht zu werden. Als kritisch und hartnäckig erweist sich über weite Strecken einzig Landesvorstandsmitglied Claudia Zanker aus dem Unstrut-Hainich-Kreis. Die 50-Jährige ist Schulhat
leiterin der Grundschule Unstruttal in Ammern und SPD-Kreisvorsitzende im Unstrut-Hainich-Kreis. Dass sie 2016 überhaupt gewählt wurde, soll Hack intern als „Betriebsunfall“bezeichnet haben. Sein Instinkt sagte ihm offenbar sofort: Mit ihr droht Ärger. Zanker wird nachfragen und sich nicht abwimmeln lassen.
Das zeigt sich auch rund um den Jahreswechsel 2019/2020: Seit Monaten schon bittet Zanker um Antwort auf knapp 100 Fragen, darunter auch zu den Geschäftsführer-Gehältern. Weil sie aber immer wieder vertröstet wird und Antworten – wenn überhaupt – nur unkonkret und unzureichend sind, hat sie bereits Ende November 2019 per EMail alle Thüringer Awo-Kreisverbände über diese Hinhaltetaktik informiert. Daraufhin gibt Landesgeschäftsführer Ulf Grießmann (46) bekannt, dass der gesamte Fragenkatalog Ende Januar beantwortet und in der darauffolgenden Vorstandssitzung thematisiert werden soll. Am 6. Februar ist es schließlich soweit: An diesem Tag werden im Landesvorstand im Schnelldurchlauf zumindest einige von Zankers Fragen beantwortet, die zu den Geschäftsführer-Gehältern aber wiederum nicht.
Allerdings hat Thüringen inzwischen eine veritable Regierungskrise, die alles – auch den mutmaßlichen Skandal in der Thüringer Awo – zu überschatten droht. Würde nicht just in diesen Wochen beispielsweise der Brief von Landesvorstandsmitglied Karl-Heinz Stengler an Claudia Zanker publik und dafür sorgen, dass dieses Thema nicht versandet: Unter dem Vorwand, sich um ihre Gesundheit zu sorgen, gibt der Südthüringer Zanker nicht nur den Rat, einen Psychologen zu konsultieren. Er wirft ihr auch vor, „ein böses Spiel zu betreiben“.
Die Veröffentlichung dieser Zitate hat an der Awo-Basis geradezu einen Aufschrei zur Folge: Herbert Müller (77), der 1990 in Zeulenroda den Awo-Kreisverband gründete und dann dessen Geschäftsführer war, stellt sich demonstrativ hinter Zanker und fordert Stenglers Rücktritt. Und auch Sandy Kirchner (37), Chefin des Awo-Ortsvereins Altengottern, dem Zanker angehört, schließt sich öffentlich Müllers Forderung an. Selbst Landesgeschäftsführer Ulf Grießmann (46) kommt nun nicht umhin festzustellen, dass Stengler übers Ziel hinaus geschossen ist.
Claudia Zanker indes lässt sich nicht einschüchtern. Sie setzt Grießmann neue Termine, um Einsicht in die Unterlagen nehmen zu können – und kündigt erstmals auch an, ihr Recht notfalls mit einer Auskunftsklage zu erstreiten. Mittlerweile rumort es auch in den Gliederungen des Thüringer Verbandes: Am 18. Februar wenden sich die Geschäftsführer von acht Kreis- und Regionalverbänden sowohl an AJSChef Hack als auch an den AJS-Aufsichtsrat und fordern, die Kündigung Uwe Kramers rückgängig zu machen. Die Lage spitzt sich derart zu, dass Hack sogar seinen alljährlichen Fastenurlaub abbricht. Er will unter allen Umständen vermeiden, dass ihm die Dinge entgleiten.
Doch er nimmt sich selbst erst einmal aus der Schusslinie. Nicht er, sondern die neue Geschäftsführerin Antje Wolf – seit 1. Februar im Unternehmen – antwortet am 27. Februar auf das Schreiben der Kreisgeschäftsführer. Das soll den Eindruck erwecken, dass mit ihr eine neue Ära in der Awo AJS angebrochen ist. Wolf bittet „bezüglich einer finalen Entscheidung zu Herrn Kramer“um Geduld, „bis das neue Führungskonzept präsentationsbereit ist“. Die AJS, schreibt sie weiter, befinde sich in einem Prozess der Strategieerneuerung“.
Der Brief hat in der Thüringer Awo kaum die Runde gemacht, als sich zum zweiten Mal alles zugunsten der Thüringer AwoFührungsriege zu fügen scheint: Die Corona-Pandemie ist da – und alle Welt nur noch damit beschäftigt, sich gegen das Virus zu schützen. Michael Holz, ehrenamtlicher Präsident des Regionalverbandes Mitte-West-Thüringen, aber verliert das Thema Manager-Gehälter nicht aus dem Blick: Er adressiert im März an den Awo-Bundesverband die Forderung, ausnahmslos jeden Landes- und Kreisverband einmal jährlich zu prüfen und dabei vor allem die Bezahlung der Belegschaft wie auch der Führungskräfte zu kontrollieren. Halte sich ein Verband nicht an die Regeln, müsse der Bundesverband Nachbesserungen verlangen. Und erfolgten diese nicht, müsse er den jeweiligen Verband aus der Awo werfen.
Nur wenig später, am 7. April, teilt der Bundesverband mit, dass er seinen vorläufigen Prüfungsbericht fertiggestellt und zur Stellungnahme nach Thüringen gesandt hat. Dort kommt das Papier zwar an, doch Landesgeschäftsführer Ulf Grießmann sorgt dafür, dass es niemand außer ihm, Michael Hack, dem zweiten AJS-Geschäftsführer Achim Ries (60), Antje Wolf und AJS-Prokurist Sebastian Ringmann (46) zu sehen bekommt. Verständlich: Schließlich legt der Bundesverband darin deren Gehälter offen. Der Verband hält nicht nur Grießmanns Jahresbruttogehalt von rund 150.000 Euro (zuzüglich Dienstwagen der Mittelklasse) im Jahr 2020 für unangemessen. Er stößt sich vor allem auch an den Vergütungen von Hack (rund 301.000 Euro, zuzüglich Dienstwagen der oberen Mittelklasse plus „unangemessene“Altersteilzeitvergütung), Ries (240.000 Euro zzgl. Dienstwagen plus „unangemessene“Altersteilzeitvergütung), Neueinsteigerin Wolf (150.000 Euro) und Ringmann (fast 174.000 Euro plus Dienstwagen und Dienstwohnung von 162 Quadratmetern). Zudem rügt die Bundesspitze explizit, „dass bei Herrn Hack und Herrn Ries bewusst gegen den Awo-Governance-Kodex“, also die Vergütungsrichtlinien, „verstoßen wurde“.
Als weitere Landesvorstandsmitglieder nach dem Prüfbericht fragen, teilt Landesgeschäftsführer Ulf Grießmann Ende April mit, dass sich damit zunächst der geschäftsführende Landesvorstand befasse und dieser auch eine Entscheidung zu weiteren Vorgehensweise treffen werde. Wenige Tage später informiert Grießmann die „Awo-Freundinnen und -Freunde“darüber, als Landesgeschäftsführer um seine Abberufung zum Jahresende gebeten zu haben. Künftig wolle er sich nur noch auf seine Tätigkeit als Chef des Kreisverbandes Saale-OrlaKreis konzentrieren, die ihm bisher als
Minijob vergütet wurde.
Dann beginnt sich das Karussell plötzlich immer schneller zu drehen: Als diese Zeitung am 15. Mai darüber berichtet, dass der Prüfbericht nur einem Teil des Landesvorstandes zugegangen ist und inzwischen sowohl Claudia Zanker als auch der Awo-Regionalverband Mitte-West-Thüringen eine Auskunftsklage eingereicht haben, reißt dem Bundesverband der Geduldsfaden: Noch am gleichen Tag beruft er eine Präsidiumssitzung ein und fordert eine lückenlose Aufklärung aller Vorwürfe gegen die Thüringer Awo und die AJS. Außerdem kündigt er an, nun selber allen Landesvorstandsmitgliedern den Prüfbericht zukommen zu lassen. Nur wenige Tage später, am 23. Mai, erfährt die Öffentlichkeit durch diese Zeitung, dass einige Führungskräfte die Thüringer Awo wie einen Selbstbedienungsladen genutzt haben. Inzwischen fordern zudem die Geschäftsführer von sieben Thüringer Kreisverbänden die Abberufung der
AJS-Chefs und vorgezogene Neuwahlen des Landesvorstands.
Nun geht es Schlag auf Schlag: Zuerst tritt mit Steffen Kania der stellvertretende Landesvorsitzende zurück, dann auch der langjährige Landesvorsitzende Werner Griese. Der Bundesverband wendet sich – ein Novum in seiner Geschichte – mit einem Offenen Brief und einer Videobotschaft an bundesweit alle Mitglieder und Mitarbeiter und fordert nachdrücklich einen Neuanfang bei der Thüringer Awo. Der Druck wächst und wächst, bis am Freitag, 29. Mai, Hack und Ries verkünden, zum 30. Juni 2020 um ihre Abberufung gebeten zu haben. Da sind auch die Tage von Antje Wolf an der AJS-Spitze längst gezählt: Versucht sie zunächst noch, sich als die Person darzustellen, die den Neuanfang auf den Weg bringen will, kapituliert schließlich auch sie und kündigt ihren Rückzug an – ebenfalls zum 30. Juni. Mit ihrem früheren Prokuristen Uwe Kramer einigt sich die AJS zwischenzeitlich auf eine Abfindung. Über deren Höhe wahren beide Seiten Stillschweigen.
Doch ein Ende der Krise bei der Thüringer Awo ist zunächst nicht in Sicht. Hack & Co. dürfen weiter schalten und walten. Der Bundesverband macht von den Ordnungsmaßnahmen, wie sie im Verbandsstatut verankert sind, keinen Gebrauch. Dabei könnte er zum Beispiel ein Hausverbot verhängen, um das weitere Betreten der Geschäftsräume zu unterbinden. Aber er lässt den Landesverband weiter gewähren. Allerdings fordert er ihn Mitte Juni öffentlich dazu auf, „schnellstmöglich“die überhöhten Gehälter abzusenken und unangemessene Gehaltsstrukturen zu beenden.
Unterdessen beginnt hinter den Kulissen das Gerangel um die Nachfolge an der AJS-Spitze: Nach Informationen dieser Zeitung wittert nicht nur Prokurist Sebastian Ringmann für sich Chancen, sondern auch Noch-Landesgeschäftsführer Ulf Grießmann. Dass der Prüfbericht des Bundesverbandes beide als viel zu üppig bezahlt einstuft, scheint Ringmann und Grießmann, die ihr Salär ebenso wie Hack und Ries in den Stellungnahmen an den Verband vehement verteidigen, in ihren Augen nicht zu diskreditieren. Doch 14 Tage vor der drohenden Führungslosigkeit gelingt es – teils gegen den Widerstand verbliebener Landesvorstandsmitglieder – die Kuh vom Eis zu bringen: Mit Katja Glybowskaja aus Jena und Andreas Krauße aus Saalfeld hat die AJS vom 1. Juli 2020 an eine Awo-erfahrene, aber unbelastete InterimsDoppelspitze für zunächst ein Jahr.