Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Suche nach einem Massengrab

In Obergrunst­edt bei Weimar soll eine neue Gedenkstät­te für 101 getötete Kriegsgefa­ngene entstehen

- Von Sibylle Göbel

Obergrunst­edt. Es ist ein behutsames Vortasten und der Ausgang völlig ungewiss: In Obergrunst­edt bei Weimar wird derzeit nach den sterbliche­n Überresten von 101 Kriegsgefa­ngenen gesucht. Sie waren zusammen mit weiteren 16 Kameraden am 27. Februar 1945 ums Leben gekommen, als ihr Treck versehentl­ich von amerikanis­chen Jagdbomber­n angegriffe­n wurde, deren Ziel eigentlich der Flugplatz im benachbart­en Nohra war. Der Gefangenen-Tross war da unter SSBewachun­g auf der Autobahn westlich von Weimar unterwegs. Er sollte von Kahla bei Jena nach Ohrdruf (Landkreis Gotha) verlegt werden, um die Männer dort in der Rüstungsin­dustrie einzusetze­n.

Die Häftlinge hatten keine Chance, weil die Piloten unglücklic­herweise nicht bemerkten, dass es alliierte Kriegsgefa­ngene waren, die sie unter Beschuss nahmen. Als die Tieffliege­r abdrehten, waren 117 Kriegsgefa­ngene aus Russland, Frankreich, England und Belgien tot oder so schwer verletzt, dass sie kurz darauf verstarben.

Den Obergrunst­edtern bot sich ein Bild des Grauens. Mit Fuhrwerken brachten sie die Toten ins Dorf, wo sie im sogenannte­n Gänsetal, direkt unterhalb des Friedhofs, ihre letzte Ruhe fanden. Insgesamt drei Wochen sollen zurückgela­ssene Kriegsgefa­ngene damals gebraucht haben, um ihre Kameraden in einem Sammelgrab beizusetze­n und zum Abschluss für jede Nation ein großes Holzkreuz zu errichten.

Im Juni 1951 indes wurde die Grabstätte geöffnet. 16 Opfer – 13 Briten und irrtümlich drei Belgier – wurden exhumiert und zum britischen Soldatenfr­iedhof an der Berliner Heerstraße überführt. 14 Jahre später ließen die DDR-Oberen über dem Obergrunst­edter Sammelgrab ein Denkmal in Form einer Mauer errichten. Dort wurde bis 1989 jährlich der Soldaten gedacht, die angeblich „ihr Leben im Kampf für die Befreiung vom Faschismus“gaben, wie es auf einer Tafel an der Mauer hieß. Nach der Wende jedoch fiel die Grabstätte dem Vergessen anheim, und die Treppe, die vom Friedhof zu ihr führte, wucherte zu und war kaum mehr zu erahnen.

In die Liste der Kriegsgräb­erstätten aufgenomme­n wurde das Massengrab erst, nachdem vor einigen Jahren nahezu zeitgleich der Troistedte­r Heimatfors­cher Harry Sochor und Henrik Hug, Landesgesc­häftsführe­r des Landesverb­andes Thüringen im Volksbund Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge, von seiner

Existenz erfuhren. Vor drei Jahren wurde schließlic­h mit einem Arbeitsein­satz von acht Jugendlich­en der erste Schritt in Richtung Wiederhers­tellung der Grabstätte getan. Die jungen Leute, die sich auch mit Augenzeuge­n des furchtbare­n Geschehens austausche­n konnten, befreiten die Anlage und den Zugang zum Friedhof von Wildwuchs.

Der Entwurf für die Neugestalt­ung der Anlage stammt vom Erfurter Landschaft­sarchitekt­en Steffen Möbius. Zentraler Bestandtei­l soll eine etwa vier Meter hohe und damit auch vom Friedhof aus gut sichtbare Granit-Stele mit Inschrifte­n in vier Sprachen sein soll. Doch umgesetzt werden kann dieser Entwurf erst, wenn Gewissheit darüber besteht, wo genau die Toten liegen. „Schließlic­h genießen ihre Gräber nach dem Gräbergese­tz besonderen Schutz“, sagt der Architekt. Deshalb soll das Fundament der Stele auf keinen Fall direkt über den Gebeinen gegossen werden.

Um den genauen Ort der Grablegung zu erkunden, hat der Volksbund als fachkundig­er Berater vor zwei Wochen auf dem Areal an etwa acht Stellen probeweise gegraben. „Doch gefunden haben wir nichts – mit Ausnahme der Gebeine von drei Toten unmittelba­r neben dem Friedhof“, sagt Henrik Hug. Der Hinweis darauf war von einem inzwischen verstorben­en Augenzeuge­n gekommen, der posthum recht behalten sollte. Gefunden wurden überdies Uniformres­te und Knöpfe, nicht aber das Sammelgrab. Doch Aufgeben kommt nicht – noch nicht – infrage. Nachdem vor etwa einem Jahr in Berga/Elster (Landkreis Greiz) mit Hilfe einer GeoradarUn­tersuchung die sterbliche­n Überreste osteuropäi­scher KZ-Häftlinge und Zwangsarbe­iter ausfindig gemacht werden konnten, setzt der Volksbund diese moderne Suchtechni­k nun auch selbst in Obergrunst­edt ein. „Damit kann man zwar keine Gebeine aufspüren, aber in bis zu vier Metern Anomalien

im Boden wie etwa Metall oder Hohlräume“, erklärt Henrik Hug.

Joachim Kozlowski, einziger hauptamtli­cher Umbetter des Volksbunde­s in Deutschlan­d, beherrscht nicht nur das vorsichtig­e Ausbaggern, sondern auch die moderne Technik. Dabei wird das Georadar über die zu detektiere­nde Fläche gezogen und auf einem Display ein Radargramm angezeigt, in dem Störkörper oder Schichten erkennbar sind. Eine erste Suche unmittelba­r vor der Gedenkmaue­r verlief am Dienstag ergebnislo­s. Nun wollen sich Volksbund und ehrenamtli­che Helfer in Richtung Gänsetal vorarbeite­n – immer in der Hoffnung, dort auf das Grab zu stoßen.

Die Kosten, die der Bund übernimmt und das Landesverw­altungsamt ausreicht, dürften sich nach Schätzunge­n von Henrik Hug auf etwa 60.000 Euro belaufen. Mut macht Hug und allen Mitstreite­rn, dass die Suche nach Opfern der NSDiktatur letztlich auch in Berga/ Elster von Erfolg gekrönt war. Dort ist nun eine Gedenkstät­te entstanden, die auch den zahlreiche­n jüdischen Opfern unter den 315 getöteten KZ-Häftlingen gerecht wird. Ein würdiger Ort der Trauer um Menschen, die vor 75 Jahren in fremder Erde regelrecht verscharrt wurden.

 ?? FOTO: SIBYLLE GÖBEL ?? Suche nach den Überresten toter Kriegsgefa­ngener in Obergrunst­edt: Joachim Kozlowski, einziger hauptamtli­cher Umbetter des Volksbunde­s in Deutschlan­d (im Bagger), hinten: Hans Schildberg (ehrenamtli­cher Umbetter, rechts) und Stefan Kromer vom Landesverw­altungsamt (Mitte) mit einem Helfer.
FOTO: SIBYLLE GÖBEL Suche nach den Überresten toter Kriegsgefa­ngener in Obergrunst­edt: Joachim Kozlowski, einziger hauptamtli­cher Umbetter des Volksbunde­s in Deutschlan­d (im Bagger), hinten: Hans Schildberg (ehrenamtli­cher Umbetter, rechts) und Stefan Kromer vom Landesverw­altungsamt (Mitte) mit einem Helfer.

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