Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Rückkehr in den Lockdown
Nach dem Ausbruch in der Tönnies-Fleischfabrik treten für hunderttausende Menschen in Nordrhein-Westfalen wieder Pandemie-Auflagen in Kraft
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Berlin. Die Bewohner der benachbarten Landkreise Gütersloh und Warendorf in Nordrhein-Westfalen sind nun also die Ersten – und es fühlt sich gewiss nicht gut an. Wegen der hohen Zahl von Corona-Infizierten nach einem Ausbruch in der Tönnies-Fleischfabrik wird erstmals in Deutschland das öffentliche Leben wieder heruntergefahren. Nur wenige Wochen nach Aufhebung der Pandemie-Auflagen gelten damit erneut strenge Schutzmaßnahmen – und das ausgerechnet kurz vor den Sommerferien in Nordrhein-Westfalen. Sie beginnen am kommenden Montag.
Rund 370.000 Menschen leben im Landkreis Gütersloh, knapp 280.000 sind es nebenan im Kreis Warendorf. Mehr als 1952 Menschen in der Region haben sich bislang nachweislich mit Corona angesteckt. Mit dem regionalen Lockdown wird nun das öffentliche Leben erneut erheblich eingeschränkt.
„Das, was wir hier machen, haben wir in Deutschland noch nicht erlebt.“
Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
Es ist dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) am Dienstagvormittag beim Gang vor die Presse deutlich anzusehen, dass ihm diese Ankündigung schwer fällt. „Das, was wir hier machen, haben wir in Deutschland noch nicht erlebt“, sagt Laschet, „wir machen das aus Vorsicht, um Sicherheit zu haben“. Es ist Laschet, der zunächst die Maßnahmen für den Kreis Gütersloh ankündigt. Wenige Stunden später gibt NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) den Lockdown auch für die Region Warendorf bekannt.
Kritiker aus der Bundespolitik, teils auch aus Laschets eigenen Partei, hätten sich von der Landesregierung dagegen schon ein früheres Herunterfahren des öffentlichen Lebens in den betroffenen Gebieten gewünscht. Laut einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vom Mai ist die erneute Verhängung von Coronaauflagen möglich, wenn in Städten oder Landkreisen die Zahl der Neuinfektionen sieben Tage in Folge bei 50 pro 100.000 Einwohner liegt. Im Raum Gütersloh sind es 257,4 Neuinfektionen im entsprechenden Zeitraum, wie aus der aktuellen Statistik des RobertKoch-Instituts (RKI) hervorgeht. In Warendorf sind es mit 68,4 Neuinfektionen
auf 100.000 Einwohner zwar deutlich weniger. Trotzdem ist die kritische Grenze überschritten.
Auflagen gelten für zunächst eine Woche
Nun also ist der Lockdown da. Wieder dürfen die Menschen sich im öffentlichen Raum nur noch mit Personen des eigenen Hausstands bewegen oder zu zweit mit einer Person von außen. Sport in geschlossenen Räumen ist erneut verboten, Kinos und Bars müssen wieder schließen. Die Auflagen gelten von Mittwoch an und für zunächst eine Woche. Sie können aber je nach Pandemieverlauf auch länger in Kraft bleiben. Laumann betont, ohne die neuen Maßnahmen „wären die Belastungen am Ende womöglich um ein Vielfaches höher“.
Die Landesregierung hat in der Region zudem eine massive Ausweitung der Coronatests auf Bewohner und Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen angekündigt. Auch bei Mitarbeitern der Krankenhäuser, bei Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel und bei Kioskpersonal sollen Abstriche genommen werden. Zudem sollen nach den Tönnies-Mitarbeitern nun auch weitere Beschäftigte von Unternehmen
und Subunternehmen untersucht werden, die in der Region in Sammelunterkünften leben.
Bewohner der beiden Landkreise dürfen die Region zwar verlassen. Es herrsche keine Reisebeschränkung. Laschet appellierte aber an die Menschen, sich innerhalb der Kreisgrenze zu bewegen. Der SPDGesundheitsexperte Karl Lauterbach hatte gewarnt, durch den Beginn der Reisesaison könnte sich das Virus aus der betroffenen Region über Deutschland und darüber hinaus ausbreiten. Eine zweite Infektionswelle könne die Folge sein.
Diese Befürchtung scheint man auch in Bayern zu haben. Dort dürfen Hotels, Pensionen und andere Beherbergungsbetriebe vorerst keine Gäste mehr aus dem Landkreis Gütersloh und aus anderen Kreisen mit hohen Corona-Infektionszahlen aufnehmen, wie der bayerische Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) bekannt gab. Er verwies auf Erfahrungen nach den Faschingsferien, als viele infizierte Urlauber aus Österreich das Virus nach Bayern einschleppten. Der Berliner Virologe Christian Drosten befürchtet nach den jüngsten Corona-Ausbrüchen eine unbemerkte Ausbreitung des Corona-Virus in die Bevölkerung. Die Verbreitung über die Region hinaus zu verhindern, sei jetzt das Entscheidende, sagte der Charité-Wissenschaftler im NDR-Podcast. Schon jetzt ist aus Sicht des Virologen große Vorsicht geboten, dass sich keine zweite Welle entwickelt. „In zwei Monaten, denke ich, werden wir ein Problem haben, wenn wir nicht jetzt wieder alle Alarmsensoren anschalten“, warnt Drosten.
Deutschlands größter Schlachtbetrieb Tönnies reagiert auf die Corona-Ausbrüche in seiner Fleischfabrik sowie auf die Kritik an der großen Zahl an Werksangestellten. Bis Ende 2020 sollen alle Werkverträge „in allen Kernbereichen der Fleischgewinnung“abgeschafft und die Mitarbeiter in der Tönnies-Unternehmensgruppe eingestellt werden, wie Tönnies am Dienstag mitteilte. Tönnies-Konkurrent Westfleisch kündigte ebenfalls an, bis Jahresende alle Mitarbeiter selbst einzustellen. Derweil gibt es neue Corona-Fälle bei Schlachthofmitarbeitern in Niedersachsen. Betroffen ist ein Betrieb bei Oldenburg, der Produkte für „Wiesenhof“herstellt. Dort wurden 23 Mitarbeiter positiv auf Sars-CoV-2 getestet.