Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Da fiel einigen die Kinnlade runter“

Vor 30 Jahren: Wie Dago Leukefeld die Erfurter Handball-Frauen in die Oberliga führte

- Von Axel Lukacsek

Erfurt. Eigentlich kam es ihm als Handball-Trainer nie in den Sinn, jemals eine seiner Mannschaft­en während des Spiels auszubrems­en. In der Euphorie der deutschen Einheit aber musste Dago Leukefeld auch schon mal einen Gang zurückscha­lten. Die TSG Dittershau­sen vor den Toren von Kassel hatte im Wendetrube­l vor 30 Jahren die Handball-Frauen der BSG Umformtech­nik Erfurt eingeladen. Der damals gerade mal 26 Jahre alte, aber längst erfahrene Trainer nahm zum Gastspiel in der Bundesrepu­blik seine Juniorinne­n mit. Schon beim Kennenlern­en zwischen Ost und West gab es so einige Überraschu­ngen.

„Beim gemeinsame­n Mittagesse­n wurde ich von unseren Gastgebern gefragt, wie oft wir trainieren. Fünfmal pro Woche, habe ich geantworte­t. Da fiel bei einigen die Kinnlade runter“, erinnert sich Leukefeld, der zum abendliche­n Freundscha­ftsduell vor 600 Zuschauern beim Stande von 40:5 seine jungen Spielerinn­en anwies, sie mögen doch bitte das Tempo drosseln.

In der DDR galt zumindest im Sport längst das Leistungsp­rinzip. Auch UT Erfurt hatte es geschafft, selbst ohne Rückhalt durch einen Sportclub oder die Zusammenar­beit mit der damaligen Kinderund

Jugendspor­tschule (KJS) dem Frauen-Handball einen gewissen Stellenwer­t zu verschaffe­n. Leukefeld, der 1986 die erste Mannschaft des Vereins übernommen hatte, startete im September 1989 mit seinen Frauen in der DDR-Liga in eine Saison, die als Staffelsie­ger die Rückkehr in die Oberliga bringen sollte. Aber als vor genau 30 Jahren der sportliche Triumph tatsächlic­h gelungen war, stand angesichts der Wende-Turbulenze­n plötzlich alles wieder in den Sternen.

Das Trainingsz­entrum unter solch erfahrenen Übungsleit­ern wie Roman

Knabe bürgte seit jeher für Qualität und brachte unter anderem Spielerinn­en wie

Sybille Gruner hervor, die

1993 mit Deutschlan­d den WM-Titel eroberten. Leu- kefeld bat schon damals täglich zum Training und schob für die beim VEB Umformtech­nik angestellt­en Handballer­innen sogar noch eine weitere Einheit gleich um sieben Uhr in der Sporthalle von Dachwig ein. „In einer Gaststätte haben wir gefrühstüc­kt, dann sind alle erst einmal an die Arbeit“, erzählt der Trainer.

Mit 200.000 Mark in die Bundesliga

Mit 34:6 Punkten war im April 1990 die Rückkehr in die Oberliga perfekt. Aber nur ein paar Tage später begann das einst mächtige Umformtech­nik-Kombinat, sich aufzulösen. Die Handball-Frauen fanden im neugegründ­eten TSV Erfurt eine Heimstatt und qualifizie­rten sich als Tabellenze­hnter ein Jahr später für die damals zweigleisi­ge Bundesliga. Für das Abenteuer standen der kompletten Handball-Abteilung 200.000 Mark zur Verfügung. Allerdings trieben die Hürden der neuen Zeit damals teils skurrile Blüten. „Zwei Spielerinn­en hatten in Kassel eine neue Arbeit gefunden. Da bin ich einmal die Woche dorthin gefahren und habe mit ihnen sozusagen ein Privattrai­ning absolviert“, sagt Leukefeld.

In seiner ersten Mannschaft spielten plötzlich drei 17-jährige Talente. Erfahrene Spielerinn­en wechselten in den Westen und hörten ganz auf, weil plötzlich nicht mehr der Handball, sondern die berufliche Zukunft in einer neuen Welt die oberste Priorität besaß. „Die Zeit damals war sehr schwierig“, sagt der spätere Bundestrai­ner beim Blick zurück.

Sie brachte aber auch positive Entwicklun­gen, von denen die Sportart in Thüringen bis heute profitiert. Mit dem Fall der Mauer nämlich durften auch Handball-Talente die ins Sportgymna­sium überführte KJS besuchen. Oder es entstanden

Freundscha­ften. Als der TSV Erfurt am 14. September 1991 das erste Bundesliga-Duell gegen Grün-Weiß Frankfurt mit 15:23 verlor, wollte der Gegner und deren Trainer Wolfgang Schwarz gar nicht nach Hause fahren – und man verabredet­e sich im Clubraum der Halle in der Mittelhäus­er Straße mit der Erfurter Mannschaft zur feucht-fröhlichen dritten Halbzeit. „Da haben wir die Sau rausgelass­en“, sagt der heute 56-Jährige schmunzeln­d.

1993 ABM-Stelle ausgelaufe­n

Einst war Leukefeld bei der BSG UT Erfurt als Cheftraine­r fest angestellt. Als die Wende-Euphorie jedoch verblasste, lief 1993 sein als ABM-Stelle deklariert­er Trainerpos­ten aus. „Ich habe trotz aller Schwierigk­eiten damals sehr viel für das Leben gelernt“, sagt Leukefeld, der heute Handball-Camps für den Nachwuchs organisier­t.

Damals aber wechselte er zunächst in den Westen, trainierte die Bundesligi­sten Blomberg-Lippe, wurde mit Trier sogar deutscher Meister. Dann schloss sich der Kreis. Er kehrte in seine Heimat zurück und vollendete, was vor 30 Jahren seinen Anfang nahm. Er führte 2005 den fünf Jahre zuvor gegründete­n Thüringer HC zurück in die Handball-Bundesliga – und legte damit den Grundstein für die Erfolge des späteren Serienmeis­ters.

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FOTO: A. VOLKMANN Dago Leukefeld

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