Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Städtetag setzt sich für Nahverkehr ein

Viele Menschen meiden aus Angst vor Ansteckung öffentlich­e Verkehrsmi­ttel. Die Kommunen schlagen Alarm

- Von Tim Braune und Jochen Gaugele

Berlin. Der Deutsche Städtetag hat die Bürger aufgeforde­rt, wieder verstärkt öffentlich­e Verkehrsmi­ttel zu nutzen. „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich Fahrperson­al oder Fahrgäste überdurchs­chnittlich im Nahverkehr mit dem Corona-Virus angesteckt hätten. Das zeigt, die Maßnahmen wirken, auch die Maskenpfli­cht“, sagte Hauptgesch­äftsführer Helmut Dedy der TLZ. Die Verkehrswe­nde hin zu nachhaltig­er Mobilität dürfe nicht durch Corona ausgebrems­t werden.

Berlin. Licht und Schatten beim Klimaschut­z – aber was überwiegt, wenn die Pandemie anhält? Für Monate fiel die Weltwirtsc­haft in einen Corona-Dornrösche­nschlaf. Am Himmel: keine Flugzeuge, keine Kondensstr­eifen. Am Horizont: keine rauchenden Fabrikschl­ote. Auf den Meeren: keine Kreuzfahrt­giganten. Der Globus atmete durch. Klimaforsc­her warnen, die kurze Corona-Pause werde den Trend der Erderwärmu­ng nicht brechen. Dazu kommen Entwicklun­gen, die dem Klima schaden: Wieder volle Straßen und Staus, während Busse und Bahnen aus Angst vor Ansteckung leer bleiben. Die Kommunen fürchten bereits um die Verkehrswe­nde. Und erste Politiker sagen: Bei sieben Millionen Kurzarbeit­ern sind Jobs und soziale Absicherun­g wichtiger als Klimaschut­z. Fachleute halten dagegen. Die Internatio­nale Energieage­ntur (IEA) schlägt Alarm. Die Weltgemein­schaft habe nur ein halbes Jahr Zeit, um aus dem Lockdown die richtigen klimapolit­ischen Lehren zu ziehen.

Hat der Lockdown die Erde sauberer gemacht?

Kurzfristi­g ja. Der tägliche weltweite Kohlendiox­id-Ausstoß ging auf dem Höhepunkt der strikten Corona-Maßnahmen zeitweise um etwa ein Sechstel zurück. Das berechnete ein internatio­nales Forscherte­am, wie die Fachzeitsc­hrift „Nature Climate Change“kürzlich berichtete. In manchen Ländern seien die Emissionen zu den Hochzeiten der Corona-Beschränku­ngen gar um bis zu durchschni­ttlich 26 Prozent gesunken. Dass große Teile der Weltbevölk­erung zu Hause hätten bleiben müssen und Grenzen geschlosse­n worden seien, habe etwa den Verkehr verringert und Konsumgewo­hnheiten verändert. Allein

die Emissionen des Transports an Land sowie des Luftverkeh­rs hätten am 7. April um 36 beziehungs­weise 60 Prozent niedriger gelegen als im Jahresdurc­hschnitt 2019. Landverkeh­r, Energie und Industrie machten demnach gemeinsam

86 Prozent des gesamten

CO2-Rückgangs aus. In den ersten vier Monaten des Jahres fielen die Emissionen der Schätzung zufolge um insgesamt etwa 1048 Millionen Tonnen. Besonders stark war der Rückgang in China (minus

242 Megatonnen), den USA (minus

207 Megatonnen) und Europa (minus 123 Megatonnen). Weltweit betrug die Verringeru­ng im Vergleich zu den Monaten Januar bis April

2019 insgesamt rund 8,6 Prozent. Wie stark sich der temporäre Effekt auf das Weltklima dauerhaft auswirkt, hängt davon ab, ob nach der Krise genauso gewirtscha­ftet wird wie zuvor.

Wird wegen Corona mehr Auto und weniger ÖPNV gefahren?

Viele Städte und Gemeinden machen diese Beobachtun­g. Nach Angaben des Verbands Deutscher Verkehrsun­ternehmen (VdV) hat sich die Zahl der Fahrgäste im öffentlich­en Personenna­hverkehr während des Lockdowns auf 20 Prozent des üblichen Aufkommens reduziert. Inzwischen liegt die Nutzung in Großstädte­n und Ballungsrä­umen aber wieder bei 50 bis 60 Prozent im Vergleich zu den Vorjahresm­onaten. Allerdings ist in vielen Großstädte­n auch eine starke Zunahme des Radverkehr­s zu sehen. Fahrradher­steller haben einen Corona-Boom. In Metropolen wie Berlin werden viele neue Radwege gebaut, um Pendlern den umweltfreu­ndlichen Umstieg auf zwei Räder schmackhaf­t zu machen.

Ist die Furcht vor Ansteckung in Bus und Bahn berechtigt?

Dafür gibt es bislang keine wissenscha­ftlichen Belege, wenn Abstand eingehalte­n wird. Der Deutsche Städtetag forderte deshalb die Bürger auf, wieder verstärkt öffentlich­e Verkehrsmi­ttel zu nutzen. „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich Fahrperson­al oder Fahrgäste im Nahverkehr überdurchs­chnittlich mit dem Coronaviru­s angesteckt hätten. Das zeigt, dass die Maßnahmen wirken, auch die Maskenpfli­cht“, sagte Hauptgesch­äftsführer Helmut Dedy unserer Redaktion.

„Und wer wieder gerne unter den aktuellen Corona-Bedingunge­n ins Restaurant geht, kann mindestens genauso gut in den Bus, die U-Bahn oder die Straßenbah­n steigen.“Die Verkehrswe­nde hin zu nachhaltig­er Mobilität dürfe nicht durch Corona ausgebrems­t werden.

Die Maskenpfli­cht schaffe Vertrauen, gerade in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln, sagte Dedy. Das sei für den Nahverkehr entscheide­nd, denn viele Menschen seien aus Sorge vor Ansteckung auf Auto oder Fahrrad umgestiege­n. „Busse und Bahnen“, so der Spitzenfun­ktionär des Städtetage­s, „fahren aber weiter mit vollem Angebot.“Viele Kommunen, die Busse und Bahnen betreiben, müssen Einnahmeau­sfälle anderweiti­g schultern. Unterstütz­ung

bekommen die Kommunen dabei von der Linken. „Wer selbst keiner Risikogrup­pe angehört oder regelmäßig mit Angehörige­n von Risikogrup­pen in Kontakt ist, muss nicht auf den Transport mit den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln verzichten“, sagte Parteichef Bernd Riexinger unserer Redaktion.

Wie ökologisch sind die Konjunktur­pakete?

Die Bundesregi­erung bekam für ihr 130-Milliarden-Paket ungewohnte­s Lob aus der Umweltschü­tzerszene. Greenpeace erklärte, die Maßnahmen seien immerhin „blassgrün“. Die Grünen sagten: „Besser als erwartet.“Der WWF lobte: „Die Bundesregi­erung lässt das fossile Gestern an manchen Stellen alt aussehen.“Zum Ärger der Autokonzer­ne und der Industrieg­ewerkschaf­ten erteilten Union und SPD einer Neuauflage von Kaufprämie­n für Diesel und Benziner eine Absage. Stattdesse­n werden Kaufanreiz­e für E-Autos verdoppelt, der Bau vieler neuer Ladestatio­nen wird gefördert, ebenso der Umstieg der Industrie auf neue Wasserstof­ftechnolog­ien. Zudem gibt es Fördergeld für E-Lieferwage­n und -Busse.

„Wer wieder ins Restaurant geht, kann genauso gut in Bus, U-Bahn oder Straßenbah­n steigen.“Helmut Dedy, Hauptgesch­äftsführer Deutscher Städtetag

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FOTOS: IMAGO STOCK / PHOTOTHEK; DPA Viele fühlen sich in der Coronazeit sicherer, wenn sie mit dem eigenen Auto unterwegs sind.
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Risiko U-Bahn? Der ÖPNV ist in der Pandemie stark geschrumpf­t.
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