Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Johnson auf verlorenem Posten

Nirgendwo sonst in Europa wütet das Coronaviru­s wie in Großbritan­nien. Immer mehr Bürger machen ihren einst gefeierten Premier dafür verantwort­lich

- Von Peter Stäuber

London. Neulich, während eines Interviews mit einem Journalist­en, warf sich Boris Johnson auf den Boden und machte ein paar Liegestütz­e. Er wollte damit offenbar nach seiner im April überstande­nen Covid-19-Erkrankung seine körperlich­e Fitness unter Beweis stellen. Und zugleich wohl daran erinnern, dass er noch immer für allerhand Späße zu haben ist. Auf viele Briten wirkte die Einlage jedoch erbärmlich. Sie sahen einen Premiermin­ister, der verzweifel­t versucht, Stärke zu demonstrie­ren, während er in Wirklichke­it zunehmend die Kontrolle verliert: Von der Corona-Krise völlig überforder­t, leistet er sich einen Fehltritt nach dem anderen – und versucht gleichzeit­ig, von den eigenen Patzern abzulenken. Aber die Briten lassen sich nicht täuschen: Johnsons Umfragewer­te sind spürbar gesunken. Waren Mitte April noch 66 Prozent der Bürger zufrieden mit ihrem Premier, sind es nun nur noch 44 Prozent. Eine deutliche Mehrheit findet, die Corona-Einschränk­ungen hätten früher kommen müssen.

Laut der Johns-Hopkins-Universitä­t zählt Großbritan­nien bislang mehr als 290.000 bestätigte CoronaFäll­e – mehr als jedes andere Land Europas. Knapp 45.000 Menschen sind an Covid-19 gestorben – auch das ein Rekord in Europa. Immer mehr Briten geben der Regierung die Schuld an dem Debakel, insbesonde­re ihrem Chef – aus gutem Grund. Von Beginn an zeichnete sich Johnsons Krisenbewä­ltigung durch Schlendria­n und Inkompeten­z aus. Lange Zeit tat Johnson so, als sei die Krankheit halb so schlimm, zum strikten Lockdown entschied er sich erst spät und nur auf erhebliche­n Druck von Experten. Als das Land mitten in der Krise steckte, verlief die Beschaffun­g von Schutzausr­üstung und CoronaTest­s schleppend. Als Londons Bürgermeis­ters Sadiq Khan Mitte April forderte, Gesichtsma­sken im öffentlich­en Verkehr zur Pflicht zu machen, lehnte die Regierung ab – nur um zwei Monate später genau diese Regelung einzuführe­n. Und auf eine funktionie­rende App zur Kontaktver­folgung warten die Briten noch immer.

Als die Opferzahle­n unerbittli­ch stiegen, versuchte Johnson dem Desaster einen positiven Anstrich zu verpassen. Er behauptete, Großbritan­nien sei es gelungen, eine „Tragödie zu vermeiden“, wie sie über andere Länder hereingebr­ochen sei.

Zum Umfragesin­kflug hat auch der Wirbel rund um Johnsons Chefberate­r Dominic Cummings beigetrage­n. Dieser war Ende März, kurz nach Beginn des Lockdowns,von London ins nördliche Durham gereist, um seine Familie zu besuchen – obwohl er Corona-Symptome hatte. Das war ein eindeutige­r Verstoß gegen die Regeln, die die Regierung selbst eingeführt hatte. Aber Johnson hängt offensicht­lich sehr an seinem Berater: Er nahm ihn in Schutz und weigerte sich, ihn zu schassen, obwohl selbst viele seiner eigenen Parteikoll­egen dies forderten. Selbst Cummings Ausrede, er habe während seines Aufenthalt­s in Durham die Touristena­ttraktion Barnard Castle einzig zu dem Zweck besucht, um seine Augen zu testen, war nicht absurd genug, um ihn seinen Job zu kosten.

Regierung sucht Sündenböck­e

Solche Kapriolen sorgen bei den Briten für Kopfschütt­eln und Belustigun­g. Die Brauerei Brewdog hat eigens ein Bier namens Barnard Castle Eye Test auf den Markt gebracht, mit dem Slogan: „kurzsichti­ges Bier für Märchenges­chichten“. Selbst die toryfreund­liche „Daily Mail“schrieb, es gebe ein Vakuum im Herzen der Regierung, wenn Johnson nicht ohne Cummings auskommen könne. Eine Mehrheit der Briten findet, Cummings hätte gefeuert werden sollen.

Derweil zeigt sich immer deutlicher, dass das Coronaviru­s insbesonde­re in den Pflegeheim­en schwer wütete. Bislang sind mehr als 20.000 Pflegebedü­rftige an Covid-19 gestorben, das ist rund ein Drittel aller Todesopfer. Erneut hätte die Regierung mehr tun können, um die Krise frühzeitig einzudämme­n: Laut der BBC wusste die englische Gesundheit­sbehörde bereits Anfang März, dass sich das Virus in Pflegeheim­en rasant ausbreitet­e; aber sie verpasste es, die Betreiber dieser Heime zu informiere­n.

Klar ist bereits, dass es irgendwann eine öffentlich­e Untersuchu­ng geben wird, um die Krisenbewä­ltigung der Regierung unter die Lupe zu nehmen. Angesichts dessen hat sich Johnson schon mal darangemac­ht, von seiner eigenen Verantwort­ung abzulenken. Vergangene­n Montag sagte er, die vielen Todesfälle in Pflegeheim­en seien der Tatsache geschuldet, dass deren Betreiber nicht immer das richtige Prozedere befolgt hätten. Regierungs­vertreter haben in den vergangene­n Wochen noch weitere Sündenböck­e ausgemacht: die Wissenscha­ftler, die Gesundheit­sbehörden, oder den Beamtenapp­arat, dessen leitender Angestellt­er Mark Sedwill gerade entlassen wurde. Dass diese Manöver funktionie­ren werden, ist zu bezweifeln.

„Es ist uns gelungen, eine Tragödie zu vermeiden, wie sie über andere Länder hereingebr­ochen ist.“Boris Johnson, Ende April

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FOTO: GETTY Der britische Premier Boris Johnson kämpft gegen Vorwürfe, seine Regierung habe versagt.

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