Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
„Strafverschärfung hält Täter nicht ab“
Der Missbrauchsbeauftragte der Regierung, Johannes-Wilhelm Rörig, verlangt mehr Befugnisse für Ermittler
Berlin. Nach den Missbrauchsfällen in Münster, Lügde und Bergisch Gladbach hat Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) eine Strafverschärfung für sexuelle Gewalt gegen Kinder angekündigt. Dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, reicht das nicht. Er fordert von den Parteien, sich deutlich gegen Missbrauch zu positionieren.
Die Justizministerin will, dass Kindesmissbrauch und Verbreitung von Kinderpornografie künftig als Verbrechen statt als Vergehen eingestuft werden. Reicht Ihnen das? Johannes-Wilhelm Rörig:
Die Vorschläge im Reformpaket sind sehr gut. Vieles davon fordere ich bereits seit Jahren. Besonders erfreulich finde ich, dass neben den Strafverschärfungen auch die dringend notwendigen Verbesserungen bei Prävention, Ermittlung und Qualifikation angesprochen werden. Die geplanten Strafverschärfungen sind auch ein wichtiges Signal für Betroffene. Künftig wird sexueller Missbrauch grundsätzlich als Verbrechen, und damit als schwerstes Unrecht, eingestuft. Jetzt warte ich gespannt auf die Gesetzesvorlage.
Ist die Debatte, wie man Missbrauch bekämpfen kann, damit erst einmal beendet?
Nein, ganz und gar nicht! Das wäre auch ein Riesenfehler. Diese Debatte muss unbedingt von der Politik in Bund, Ländern und Kommunen weitergeführt werden. Nach dem Missbrauchsfall in Münster folgte schnell der Ruf nach schärferen Gesetzen. Das ist der typische politische Reflex. Wir gewinnen den Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern aber nicht allein durch höhere Strafandrohungen. Die werden keinen Sexualstraftäter, der Kinder vergewaltigt, foltert und dabei filmt, abhalten. Mit Strafverschärfung verhindern wir Missbrauch nicht.
Wie dann?
Viel entscheidender ist, dass wir in jedem Bundesland, nicht nur in Nordrhein-Westfalen, das Entdeckungsrisiko für Missbrauchstäter maximal steigern, durch verbesserte Aufklärungs- und Präventionsarbeit und bessere polizeiliche Ermittlungsmöglichkeiten. Zentral ist auch eine enge Zusammenarbeit aller Behörden, die dem Kindeswohl dienen, insbesondere zwischen den Jugendämtern und den Familiengerichten.
Sie haben die Parteien aufgefordert, das Thema in den Wahlprogrammen deutlich zu verankern. Wie sind die Reaktionen?
Die Politik in Bund, Ländern und Kommunen muss das pandemische Ausmaß der sexuellen Gewalt viel stärker eindämmen wollen. Um es ganz deutlich zu sagen: Der politische Wille, sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen, ist bisher viel zu schwach! Das Thema muss, wie Nordrhein-Westfalens Innenminister Reul sagt, überall zur „Chefsache“werden. Leider sind dem Mainstream in der Politik Fragen des Kinderschutzes fern. Bei vielen ist noch nicht angekommen, dass es sich bei Prävention, Intervention, Schutz und Hilfen um wichtige Bausteine der Bekämpfung allerschwerster Kriminalität handelt.
Welche Partei engagiert sich am meisten?
Mit meinem Schreiben an die Parteivorsitzenden der Bundesparteien habe ich auf eine klare Positionierung pro Missbrauchsbekämpfung in den Wahlprogrammen für die Bundestagswahl 2021 abgezielt. Dabei habe ich auch die Verantwortung der politischen Parteien in den Ländern und Kommunen angesprochen. Ich hoffe, dass mein Appell Gehör findet. Bis heute hatte ich dazu nur persönlichen Austausch mit den Generalsekretären von CDU und SPD, Paul Ziemiak und Lars Klingbeil. Ansonsten hat noch die FDP geantwortet: Dass man mein Schreiben an das Programmressort der Partei weitergeben will. Linke, CSU und Grüne haben bisher nicht reagiert.
Die Grünen haben gerade ihr Grundsatzprogramm vorgestellt. Es hat 383 Artikel und in zwei Artikeln geht es um Kinderschutz und sexuelle Gewalt. Zu wenig?
Meine Erwartung war groß, meine Enttäuschung dann leider auch. Ich möchte den Grünen dringend raten, ihr Grundsatzprogramm nachzubessern. Alle Parteien mit Willen zu Regierungsverantwortung sollten in ihren Programmen untermauern, dass Politik und Gesellschaft alles unternehmen müssen, um Kinder vor Gewalt jeder Art zu schützen. Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch sollte als nationale Daueraufgabe benannt und in jedem Wahlprogramm ein Schwerpunktthema sein.