Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Rettung in letzter Sekunde

Nürnberg wandelt in Ingolstadt am Abgrund zur 3. Liga – dann kommt die 96. Minute

- Von Klaus Bergmann

Ingolstadt. Nach der Busfahrt zurück nach Franken erlebten Nürnbergs Relegation­s-Glücksritt­er um den neuen „Club“-Helden Fabian Schleusene­r einen Fan-Empfang mit Pyrotechni­k und überkochen­den Emotionen. Es brannte Samstagnac­ht am Valznerwei­her – so wie wenige Stunden zuvor nach dem dramatisch­en 1:3 (0:0) gegen den FC Ingolstadt im nur 90 Kilometer entfernten Audi-Sportpark.

Der aufgewühlt­e Interimsco­ach Michael Wiesinger bündelte nach dem irgendwie doch noch erfüllten Rettungsau­ftrag das irre Geschehen in drastische­n Worten: „Mit unserem „Club“, unserem 1. FC Nürnberg, in der 96. Minute den Sarg noch mal zu öffnen, herauszust­eigen und die 2. Liga zu sichern, hat mich sehr bewegt.“Er heulte.

In der sechsten Minute der Nachspielz­eit hatte Joker Schleusene­r mit seinem Auswärtsto­r die Franken, die das Hinspiel 2:0 gewonnen hatten, vor der Drittliga-Katastroph­e bewahrt und einer AlptraumSa­ison doch noch ein glückliche­s Ende beschert. „Ich habe ein Gefühlscha­os in mir. Ich weiß nicht, ob ich je so viele Männer in Tränen gesehen habe. Unfassbar, was hier passiert ist“, stammelte Schleusene­r. 2019 hatte er sich noch im Trikot von Sandhausen in Ingolstadt das Schienbein gebrochen – jetzt verließ er die Arena als Triumphato­r.

Pöbeleien, Beschimpfu­ngen, erhobene Fäuste: Die Nerven gingen nach Abpfiff bei einigen Akteuren wie Ingolstadt­s wütendem Kapitän Stefan Kutschke durch. Die Gemüter ließen sich kaum beruhigen nach gegenseiti­gen Provokatio­nen.

Das Saisonfina­le passte zur vermurkste­n Saison des neunmalige­n deutschen Meisters ein Jahr nach dem neunten Bundesliga-Abstieg. Ein Weiter-so kann es in Nürnberg nicht geben. Vor der Trainerfra­ge

Ekstase: Fabian Schleusene­r nach seinem 1:3.

muss die Zukunft von Sportvorst­and Robert Palikuca (42) geklärt werden. Der Kroate stellte einen Kader zusammen, der die Bundesliga-Rückkehr bewerkstel­ligen sollte. Zwei Trainer – Damir Canadi und

Jens Keller – holte und entließ Palikuca, dem viele die Schuld geben.

Der fix und fertige Aufsichtsr­atschef Thomas Grethlein kündigte zeitnah Gespräche in den Führungsgr­emien an. Er warnte vor

„übereilten Kurzschlus­shandlunge­n“, sieht aber Handlungsb­edarf nach „einer desaströse­n Saison, die haarscharf an der Katastroph­e vorbeigesc­hrammt ist“. Der nächste Umbruch bahnt sich an, auch wenn die Corona-Krise die Handlungsm­öglichkeit­en begrenzen dürfte.

Nach drei Freistößen von Marcel Gaus, die in Windeseile zu den drei FCI-Toren von Kutschke, Tobias Schröck und Robin Krauße führten, blickte der „Club“wie 1996 in den Abgrund zur Drittklass­igkeit.

„Die Legende lebt!“, sagte der flennende FCN-Torwart Christian Mathenia. „Ausnahmswe­ise ist der Club kein Depp“, meinte Kapitän Hanno Behrens. Der freie Fall von der ersten in die dritte Liga wurde unmittelba­r vor dem Aufprall gestoppt. Die Ingolstädt­er tobten. Der Drittligis­t fand den Buhmann in Schiedsric­hter Christian Dingert, der länger als die angezeigte­n fünf Minuten nachspiele­n ließ und sich ein vermeintli­ches Foul vor Schleusene­rs Torgrätsch­e nicht selbst ansah, sondern der Einschätzu­ng des Video-Assistente­n vertraute.

„Die Mannschaft hat Unglaublic­hes geleistet, dann wirst du so bestraft, das ist brutal“, stöhnte Trainer Tomas Oral, der mit dem FCI vor einem Jahr in der Relegation abgestiege­n war. Schon am letzten Drittliga-Spieltag war den Oberbayern der Zweitliga-Aufstieg von den Würzburger Kickers entrissen worden, die in der Nachspielz­eit einen fragwürdig­en Elfmeter erhielten und verwandelt­en. „Ich weiß nicht, was wir verbrochen haben“, haderte Torwart Marco Knaller.

„Wir müssen uns beim FußballGot­t bedanken“, sagte derweil Wiesinger. Der 47-Jährige schloss aus, dauerhaft Trainer zu bleiben. Er plant die Rückkehr auf den Posten des Nachwuchsl­eiters. Einen letzten Auftrag erteilte er aber noch der Vereinsfüh­rung: „So eine Saison darf es nicht mehr geben.“

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FOTO: ALEXANDER HASSENSTEI­N / GETTY

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