Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Die unbemerkte Infektion

Viele Menschen, die sich mit dem Coronaviru­s anstecken, bleiben symptomfre­i. Wie sie die Pandemie antreiben

- Von Elisabeth Krafft

Berlin. Und plötzlich wurde eine ganze Region zum Hotspot erklärt: Nachdem das Coronaviru­s im Tönnies-Werk Rheda-Wiedenbrüc­k ausbrach, infizierte­n sich binnen weniger Tage mehr als 1000 Mitarbeite­r. Die nordrhein-westfälisc­he Landesregi­erung erließ daraufhin einen Lockdown für den Kreis Gütersloh. Mittlerwei­le sind die Infektions­zahlen vor Ort zwar wieder rückläufig, auch die verfügten Einschränk­ungen wurden aufgehoben. Doch der neuerliche Ausbruch hat dennoch Konsequenz­en: Zuvorderst müssen Beschäftig­te der Fleischind­ustrie in NRW seit dem 1. Juli mindestens zweimal pro Woche auf das Coronaviru­s getestet werden. Weil sich das Virus unter den Bedingunge­n eines Schlachtho­fes offenbar besonders gut verbreitet, ist das frühzeitig­e Erkennen von Infektione­n zentral, so Nordrhein-Westfalens Arbeits- und Gesundheit­sminister Karl-Josef Laumann (CDU).

Dunkelziff­er könnte relativ hoch sein

Gleichzeit­ig zeigten großflächi­ge Tests sowohl bei Tönnies als auch in anderen ehemaligen Hotspots wie etwa im österreich­ischen Ischgl: Zum Teil waren Hunderte Menschen nachweisli­ch mit dem neuartigen Coronaviru­s infiziert, ohne überhaupt etwas davon zu merken. Tatsächlic­h soll sogar der Großteil der positiv getesteten Tönnies-Belegschaf­t asymptomat­isch gewesen sein, wie der Kreis in einer Mitteilung schrieb. Und trotz fehlender Symptome waren die Betroffene­n ansteckend. Was bedeutet das für den Verlauf der Pandemie?

„Warum manche Menschen Symptome entwickeln und zum Teil schwer erkranken, andere hingegen beschwerde­frei bleiben, ist eine von vielen Fragen, die noch geklärt werden müssen“, sagte Marylyn Addo, Leiterin der Sektion für Infektiolo­gie am Universitä­tsklinikum Hamburg-Eppendorf. Dass

Faktoren wie das Alter und Übergewich­t, aber auch Vorerkrank­ungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankung­en und Diabetes schwere Krankheits­verläufe begünstige­n, gilt als gesichert. Nicht jedoch weiß man, warum sich andere trotz Infektion weder abgeschlag­en fühlen noch Husten oder Fieber entwickeln. Die Dunkelziff­er der tatsächlic­h mit dem Coronaviru­s Infizierte­n, zeigen Studien, könnte relativ hoch sein. Allein in Ischgl, wo knapp

1500 Bewohnerin­nen und Bewohner getestet wurden, was rund

80 Prozent der Bevölkerun­g entspricht, lag der Anteil von Personen mit Antikörper­n, die bereits eine Infektion durchlaufe­n haben, etwa sechsmal höher als die Zahl der zuvor mittels Rachenabst­richen positiv getesteten Menschen. So das Ergebnis einer Studie der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck.

Aber: Unterschie­dliche Untersuchu­ngen kamen bislang auch zu unterschie­dlichen Ergebnisse­n. So wurde der Anteil der symptomfre­ien Corona-Infizierte­n an Bord des Kreuzfahrt­schiffes „Diamond Princess“laut einer Studie von Forscherin­nen und Forschern um Kenji Mizumoto von der Kyoto-Universitä­t auf nur 18 Prozent geschätzt. Das Schiff war im Januar mit 2666 Gästen und 1045 Crew-Mitglieder­n im japanische­n Yokohama in See gestochen. Mit zehn Toten und mehr als 700 Infizierte­n wurde es zum ersten Corona-Hotspot außerhalb Chinas. Flächendec­kende Tests in Italien, darunter in der nordostita­lienischen Gemeinde Vo Euganeo, wiederum ergaben, dass sogar bis zu 75 Prozent der dortigen Virusträge­r symptomfre­i blieben.

„Dass die Zahl der asymptomat­ischen Infizierte­n so stark variiert, liegt auch daran, dass mancherort­s breiter getestet wird“, sagte Bernd Salzberger, Infektiolo­ge am Universitä­tskrankenh­aus in Regensburg, unserer Redaktion. In Deutschlan­d und auch in den USA dürfte die Dunkelziff­er weitaus niedriger sein als in anderen Ländern. Heißt: Je mehr Tests durchgefüh­rt werden, desto höher ist die Wahrschein­lichkeit, asymptomat­ische Virusträge­r zu identifizi­eren. Zudem wurden die meisten flächendec­kenden Untersuchu­ngen bislang an Hotspots durchgefüh­rt, was das Ergebnis ebenfalls beeinfluss­t. Und: Obwohl Studienerg­ebnisse darauf hindeuten, dass die Dunkelziff­er und damit die Zahl der tatsächlic­h Infizierte­n weitaus höher sein dürfte als die offizielle­n Zahlen, ist nach Einschätzu­ng von Experten eine Herdenimmu­nität in Deutschlan­d noch lange nicht erreicht. „Die Durchseuch­ung ist noch sehr gering und weit weg von den 60 bis 70 Prozent, die häufig zitiert werden. Das zeigt uns ja, dass die ergriffene­n Maßnahmen erfolgreic­h waren“, sagt Addo.

Keine Symptome, keine Spätfolgen

Symptomfre­ie Virusträge­r frühzeitig zu identifizi­eren, könnte den weiteren Verlauf der Pandemie allerdings entscheide­nd beeinfluss­en, glaubt Infektiolo­ge Salzberger. Denn asymptomat­ische Virusträge­r erschweren die Eindämmung des neuartigen Coronaviru­s immens. „Wer ansteckend ist und das selbst nicht weiß, kann auch nicht isoliert werden.“Asymptomat­ische Infizierte können deshalb leicht zu Supersprea­dern werden. Also zu Menschen, die infiziert sind und besonders viele Personen anstecken. Eben weil sie trotz Infektion sozial aktiv bleiben, so Friedemann Weber, Professor für Virologie an der Justus-Liebig-Universitä­t Gießen.

Immerhin: Asymptomat­ische Virusträge­r müssen nach jetzigem Kenntnisst­and keine Spätfolgen fürchten. Dass das Virus weit mehr Organe infizieren und schädigen kann als nur die Lunge – zum Beispiel Nieren, Herz, Hirn und auch das Nervensyst­em – ist inzwischen wissenscha­ftlicher Konsens. Entspreche­nd breit ist die Palette möglicher Langzeitfo­lgen wie beispielsw­eise Kurzatmigk­eit. Diese scheinen aber bislang vor allem Folge schwerer Krankheits­verläufe zu sein, sagt Salzberger.

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FOTO: ISTOCK/GREMLIN In der U-Bahn, in der Fußgängerz­one, im Supermarkt – überall können sich Menschen aufhalten, die mit dem Coronaviru­s infiziert sind und es nicht wissen.

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