Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Die unbemerkte Infektion
Viele Menschen, die sich mit dem Coronavirus anstecken, bleiben symptomfrei. Wie sie die Pandemie antreiben
Berlin. Und plötzlich wurde eine ganze Region zum Hotspot erklärt: Nachdem das Coronavirus im Tönnies-Werk Rheda-Wiedenbrück ausbrach, infizierten sich binnen weniger Tage mehr als 1000 Mitarbeiter. Die nordrhein-westfälische Landesregierung erließ daraufhin einen Lockdown für den Kreis Gütersloh. Mittlerweile sind die Infektionszahlen vor Ort zwar wieder rückläufig, auch die verfügten Einschränkungen wurden aufgehoben. Doch der neuerliche Ausbruch hat dennoch Konsequenzen: Zuvorderst müssen Beschäftigte der Fleischindustrie in NRW seit dem 1. Juli mindestens zweimal pro Woche auf das Coronavirus getestet werden. Weil sich das Virus unter den Bedingungen eines Schlachthofes offenbar besonders gut verbreitet, ist das frühzeitige Erkennen von Infektionen zentral, so Nordrhein-Westfalens Arbeits- und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU).
Dunkelziffer könnte relativ hoch sein
Gleichzeitig zeigten großflächige Tests sowohl bei Tönnies als auch in anderen ehemaligen Hotspots wie etwa im österreichischen Ischgl: Zum Teil waren Hunderte Menschen nachweislich mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, ohne überhaupt etwas davon zu merken. Tatsächlich soll sogar der Großteil der positiv getesteten Tönnies-Belegschaft asymptomatisch gewesen sein, wie der Kreis in einer Mitteilung schrieb. Und trotz fehlender Symptome waren die Betroffenen ansteckend. Was bedeutet das für den Verlauf der Pandemie?
„Warum manche Menschen Symptome entwickeln und zum Teil schwer erkranken, andere hingegen beschwerdefrei bleiben, ist eine von vielen Fragen, die noch geklärt werden müssen“, sagte Marylyn Addo, Leiterin der Sektion für Infektiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Dass
Faktoren wie das Alter und Übergewicht, aber auch Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes schwere Krankheitsverläufe begünstigen, gilt als gesichert. Nicht jedoch weiß man, warum sich andere trotz Infektion weder abgeschlagen fühlen noch Husten oder Fieber entwickeln. Die Dunkelziffer der tatsächlich mit dem Coronavirus Infizierten, zeigen Studien, könnte relativ hoch sein. Allein in Ischgl, wo knapp
1500 Bewohnerinnen und Bewohner getestet wurden, was rund
80 Prozent der Bevölkerung entspricht, lag der Anteil von Personen mit Antikörpern, die bereits eine Infektion durchlaufen haben, etwa sechsmal höher als die Zahl der zuvor mittels Rachenabstrichen positiv getesteten Menschen. So das Ergebnis einer Studie der Medizinischen Universität Innsbruck.
Aber: Unterschiedliche Untersuchungen kamen bislang auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. So wurde der Anteil der symptomfreien Corona-Infizierten an Bord des Kreuzfahrtschiffes „Diamond Princess“laut einer Studie von Forscherinnen und Forschern um Kenji Mizumoto von der Kyoto-Universität auf nur 18 Prozent geschätzt. Das Schiff war im Januar mit 2666 Gästen und 1045 Crew-Mitgliedern im japanischen Yokohama in See gestochen. Mit zehn Toten und mehr als 700 Infizierten wurde es zum ersten Corona-Hotspot außerhalb Chinas. Flächendeckende Tests in Italien, darunter in der nordostitalienischen Gemeinde Vo Euganeo, wiederum ergaben, dass sogar bis zu 75 Prozent der dortigen Virusträger symptomfrei blieben.
„Dass die Zahl der asymptomatischen Infizierten so stark variiert, liegt auch daran, dass mancherorts breiter getestet wird“, sagte Bernd Salzberger, Infektiologe am Universitätskrankenhaus in Regensburg, unserer Redaktion. In Deutschland und auch in den USA dürfte die Dunkelziffer weitaus niedriger sein als in anderen Ländern. Heißt: Je mehr Tests durchgeführt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, asymptomatische Virusträger zu identifizieren. Zudem wurden die meisten flächendeckenden Untersuchungen bislang an Hotspots durchgeführt, was das Ergebnis ebenfalls beeinflusst. Und: Obwohl Studienergebnisse darauf hindeuten, dass die Dunkelziffer und damit die Zahl der tatsächlich Infizierten weitaus höher sein dürfte als die offiziellen Zahlen, ist nach Einschätzung von Experten eine Herdenimmunität in Deutschland noch lange nicht erreicht. „Die Durchseuchung ist noch sehr gering und weit weg von den 60 bis 70 Prozent, die häufig zitiert werden. Das zeigt uns ja, dass die ergriffenen Maßnahmen erfolgreich waren“, sagt Addo.
Keine Symptome, keine Spätfolgen
Symptomfreie Virusträger frühzeitig zu identifizieren, könnte den weiteren Verlauf der Pandemie allerdings entscheidend beeinflussen, glaubt Infektiologe Salzberger. Denn asymptomatische Virusträger erschweren die Eindämmung des neuartigen Coronavirus immens. „Wer ansteckend ist und das selbst nicht weiß, kann auch nicht isoliert werden.“Asymptomatische Infizierte können deshalb leicht zu Superspreadern werden. Also zu Menschen, die infiziert sind und besonders viele Personen anstecken. Eben weil sie trotz Infektion sozial aktiv bleiben, so Friedemann Weber, Professor für Virologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Immerhin: Asymptomatische Virusträger müssen nach jetzigem Kenntnisstand keine Spätfolgen fürchten. Dass das Virus weit mehr Organe infizieren und schädigen kann als nur die Lunge – zum Beispiel Nieren, Herz, Hirn und auch das Nervensystem – ist inzwischen wissenschaftlicher Konsens. Entsprechend breit ist die Palette möglicher Langzeitfolgen wie beispielsweise Kurzatmigkeit. Diese scheinen aber bislang vor allem Folge schwerer Krankheitsverläufe zu sein, sagt Salzberger.