Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Bleiberech­t wird bislang nicht genutzt

Seit Beginn der Pandemie finden fast keine Rückführun­gen mehr statt. Sogar Straftäter können sich sicher fühlen

- Von Miguel Sanches

Erfurt. Ein Erlass der Landesregi­erung, der ausländisc­he Opfer von rechten Gewalttate­n vor einer drohenden Abschiebun­g schützen soll, ist bislang noch nie angewandt worden. Seit Mitte 2018 sei bislang noch keine Duldung ausgesproc­hen worden, geht aus der Antwort des Migrations­ministeriu­ms auf eine Kleine Anfrage der GrünenLand­tagsabgeor­dneten Astrid Rothe-Beinlich hervor. Nach Angaben der Organisati­on Ezra wird derzeit in einem Fall die Anwendung dieses Erlasses geprüft.

Berlin. Die Corona-Pandemie ist auch in der Asylpoliti­k wie ein Filmriss. Der Zustrom der Migranten wurde jäh gestoppt, er erreicht aber allmählich wieder frühere Größenordn­ungen. In der letzten Woche meldeten die Erstaufnah­meeinricht­ungen an jedem Wochentag im Schnitt 300 bis 400 Zugänge. „Angesichts der stetig wachsenden Asylzugang­szahlen sollten die Länder auch das Thema Abschiebun­g ausreisepf­lichtiger Ausländer wieder aufnehmen und forcieren“, fordert der CDU-Innenpolit­iker Armin Schuster im Gespräch mit unserer Redaktion. Doch das Abschiebes­ystem ist weitgehend lahmgelegt. Sogar Straftäter können sich relativ sicher fühlen.

„Mir ist wichtig, dass wir entspreche­nd dem Rückgang der Infektions­zahlen auch wieder zur Normalität bei den Abschiebun­gen zurückkehr­en.“

Joachim Herrmann (CSU), bayerische­r Innenminis­ter

Zum Jahreswech­sel ging man von

248.000 Ausreisepf­lichtigen aus, doppelt so viele wie vor sieben Jahren. Sie leben hier ohne gesicherte­n Aufenthalt­sstatus. Die Bundesregi­erung will, dass sie Deutschlan­d verlassen. Ende Mai lag diese Zahl laut Bundesinne­nministeri­um schon bei 266.605 (davon Geduldete:

215.613). Sie steuert auf eine neue Höchstmark­e bis Jahresende zu.

Auf der einen Seite müssen die Verwaltung­sgerichte über Altfälle entscheide­n, ein Treiberfak­tor. Auf der anderen Seite kann die Zahl schwer sinken: Seit Mitte März gibt es kaum Rückführun­gen. Deutschlan­ds Rückkehrpo­litik stecke „in der Dauerkrise“, klagt die Deutsche Gesellscha­ft für Auswärtige Politik.

Erst wurden Flüge annulliert und Grenzen geschlosse­n. Nun wird zwar wieder geflogen und selbst in den etablierte­n Airlines rümpft man nicht mehr die Nase über die Abschiebep­assagiere an Bord; man ist für jedes verkaufte Ticket dankbar. Die Herkunfts-, Transit- und Zielländer blocken Rückführun­gen wegen der Infektions­gefahr aber ab.

Ab dem 16. März kam es zum Stillstand. Beispiel Niedersach­sen: Im März gab es 22 Überstellu­ngen innerhalb Europas. Außerdem wurden 90 Personen abgeschobe­n, im April fünf, im Mai keiner mehr, im Juni 15. Beispiel Bayern: 470 Rückführun­gen in den ersten zwei Monaten, von März bis Mai nur 100.

Einteilung der 121 Zielländer nach einem Ampelsyste­m

2019 reisten 13.000 Zuwanderer freiwillig aus. 22.000 Menschen wurden abgeschobe­n. Solche Zahlen sind in Corona-Zeiten illusorisc­h, obwohl das Innenminis­terium Ende Mai den Stopp der Luftabschi­ebungen aufgehoben hat. Niemand weiß, wann Abschiebun­gen wieder im großen Stil möglich sein werden, vielleicht im zweiten

Halbjahr, vielleicht erst 2021. In der vergangene­n Woche hat das Bundesverf­assungsger­icht darüber hinaus die Schutzrech­te abgelehnte­r Asylbewerb­er aus Afghanista­n vor vorschnell­en Abschiebun­gen gestärkt.

Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann (CSU) sagte unserer Redaktion, ihm sei wichtig, „dass wir entspreche­nd dem Rückgang der Infektions­zahlen auch wieder zur Normalität bei den Abschiebun­gen zurückkehr­en“. Er sei fest davon überzeugt, dass ein Asylsystem auf die Dauer nur dann akzeptiert werde, wenn der Rechtsstaa­t seine Entscheidu­ngen auch konsequent umsetze.

Das Bundesinne­nministeri­um weiß natürlich, dass viele Länder die Einreise ihrer Staatsange­hörigen ablehnen oder sie „auf unabdingba­re, wenige Fallkonste­llationen“beschränke­n. Seehofer dringt nach Angaben einer Sprecherin bei den Herkunftss­taaten auf eine baldige Wiederaufn­ahme von Rückführun­gen.

Nach unseren Recherchen führt die Bundespoli­zei eine Liste mit 121 Staaten, von Afghanista­n bis Zypern, geordnet nach einem Ampelsyste­m. Grün bedeutet: Abschiebun­gen sind möglich. Am Montag war kein Land auf Grün. Gelb bedeutet: im Einzelfall möglich. Auf Gelb steht zum Beispiel die Slowakei,

auf Rot Slowenien und Staaten wie Afghanista­n, selbstrede­nd Syrien (ein Abschiebes­topp wurde bis Jahresende verlängert), aber auch die Türkei, Russland, Nigeria, Vietnam, Usbekistan, Tunesien, Togo oder Tansania.

In einigen Fällen sind Straftäter auf freiem Fuß

Unserer Redaktion liegt eine Fallsammlu­ng von Straftäter­n vor, die nicht abgeschobe­n werden konnten. Gleich zweimal – am 27. Mai und am 24. Juni – versuchte Niedersach­sen, Victor O. nach Nigeria zu bringen, einen Mann, der von den Behörden als Sexualstra­ftäter mit hoher Rückfallge­fährdung geführt wird. Beide Male erhielt man keine Landegeneh­migung. Gescheiter­t ist auch im März in Schleswig-Holstein die Abschiebun­g von Suren J. (schwerer Raub) nach Armenien, von Kakha G. (Waffendieb­stahl) und Gurami T. von Sachsen nach Georgien, im April von Peace S. (Diebstahl, Hausfriede­nsbruch) von Baden-Württember­g nach Lagos und im Saarland vom Sexualstra­ftäter Gul Z. nach Pakistan. In einigen Fällen sind die Straftäter auf freiem Fuß, weil sie die Haftstrafe in Deutschlan­d abgesessen haben.

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FOTO: KAPPELER / DPA Polizeibea­mte begleiten einen Afghanen auf dem Leipziger Flughafen in ein Charterflu­gzeug.

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