Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Bleiberecht wird bislang nicht genutzt
Seit Beginn der Pandemie finden fast keine Rückführungen mehr statt. Sogar Straftäter können sich sicher fühlen
Erfurt. Ein Erlass der Landesregierung, der ausländische Opfer von rechten Gewalttaten vor einer drohenden Abschiebung schützen soll, ist bislang noch nie angewandt worden. Seit Mitte 2018 sei bislang noch keine Duldung ausgesprochen worden, geht aus der Antwort des Migrationsministeriums auf eine Kleine Anfrage der GrünenLandtagsabgeordneten Astrid Rothe-Beinlich hervor. Nach Angaben der Organisation Ezra wird derzeit in einem Fall die Anwendung dieses Erlasses geprüft.
Berlin. Die Corona-Pandemie ist auch in der Asylpolitik wie ein Filmriss. Der Zustrom der Migranten wurde jäh gestoppt, er erreicht aber allmählich wieder frühere Größenordnungen. In der letzten Woche meldeten die Erstaufnahmeeinrichtungen an jedem Wochentag im Schnitt 300 bis 400 Zugänge. „Angesichts der stetig wachsenden Asylzugangszahlen sollten die Länder auch das Thema Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer wieder aufnehmen und forcieren“, fordert der CDU-Innenpolitiker Armin Schuster im Gespräch mit unserer Redaktion. Doch das Abschiebesystem ist weitgehend lahmgelegt. Sogar Straftäter können sich relativ sicher fühlen.
„Mir ist wichtig, dass wir entsprechend dem Rückgang der Infektionszahlen auch wieder zur Normalität bei den Abschiebungen zurückkehren.“
Joachim Herrmann (CSU), bayerischer Innenminister
Zum Jahreswechsel ging man von
248.000 Ausreisepflichtigen aus, doppelt so viele wie vor sieben Jahren. Sie leben hier ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. Die Bundesregierung will, dass sie Deutschland verlassen. Ende Mai lag diese Zahl laut Bundesinnenministerium schon bei 266.605 (davon Geduldete:
215.613). Sie steuert auf eine neue Höchstmarke bis Jahresende zu.
Auf der einen Seite müssen die Verwaltungsgerichte über Altfälle entscheiden, ein Treiberfaktor. Auf der anderen Seite kann die Zahl schwer sinken: Seit Mitte März gibt es kaum Rückführungen. Deutschlands Rückkehrpolitik stecke „in der Dauerkrise“, klagt die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Erst wurden Flüge annulliert und Grenzen geschlossen. Nun wird zwar wieder geflogen und selbst in den etablierten Airlines rümpft man nicht mehr die Nase über die Abschiebepassagiere an Bord; man ist für jedes verkaufte Ticket dankbar. Die Herkunfts-, Transit- und Zielländer blocken Rückführungen wegen der Infektionsgefahr aber ab.
Ab dem 16. März kam es zum Stillstand. Beispiel Niedersachsen: Im März gab es 22 Überstellungen innerhalb Europas. Außerdem wurden 90 Personen abgeschoben, im April fünf, im Mai keiner mehr, im Juni 15. Beispiel Bayern: 470 Rückführungen in den ersten zwei Monaten, von März bis Mai nur 100.
Einteilung der 121 Zielländer nach einem Ampelsystem
2019 reisten 13.000 Zuwanderer freiwillig aus. 22.000 Menschen wurden abgeschoben. Solche Zahlen sind in Corona-Zeiten illusorisch, obwohl das Innenministerium Ende Mai den Stopp der Luftabschiebungen aufgehoben hat. Niemand weiß, wann Abschiebungen wieder im großen Stil möglich sein werden, vielleicht im zweiten
Halbjahr, vielleicht erst 2021. In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus die Schutzrechte abgelehnter Asylbewerber aus Afghanistan vor vorschnellen Abschiebungen gestärkt.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte unserer Redaktion, ihm sei wichtig, „dass wir entsprechend dem Rückgang der Infektionszahlen auch wieder zur Normalität bei den Abschiebungen zurückkehren“. Er sei fest davon überzeugt, dass ein Asylsystem auf die Dauer nur dann akzeptiert werde, wenn der Rechtsstaat seine Entscheidungen auch konsequent umsetze.
Das Bundesinnenministerium weiß natürlich, dass viele Länder die Einreise ihrer Staatsangehörigen ablehnen oder sie „auf unabdingbare, wenige Fallkonstellationen“beschränken. Seehofer dringt nach Angaben einer Sprecherin bei den Herkunftsstaaten auf eine baldige Wiederaufnahme von Rückführungen.
Nach unseren Recherchen führt die Bundespolizei eine Liste mit 121 Staaten, von Afghanistan bis Zypern, geordnet nach einem Ampelsystem. Grün bedeutet: Abschiebungen sind möglich. Am Montag war kein Land auf Grün. Gelb bedeutet: im Einzelfall möglich. Auf Gelb steht zum Beispiel die Slowakei,
auf Rot Slowenien und Staaten wie Afghanistan, selbstredend Syrien (ein Abschiebestopp wurde bis Jahresende verlängert), aber auch die Türkei, Russland, Nigeria, Vietnam, Usbekistan, Tunesien, Togo oder Tansania.
In einigen Fällen sind Straftäter auf freiem Fuß
Unserer Redaktion liegt eine Fallsammlung von Straftätern vor, die nicht abgeschoben werden konnten. Gleich zweimal – am 27. Mai und am 24. Juni – versuchte Niedersachsen, Victor O. nach Nigeria zu bringen, einen Mann, der von den Behörden als Sexualstraftäter mit hoher Rückfallgefährdung geführt wird. Beide Male erhielt man keine Landegenehmigung. Gescheitert ist auch im März in Schleswig-Holstein die Abschiebung von Suren J. (schwerer Raub) nach Armenien, von Kakha G. (Waffendiebstahl) und Gurami T. von Sachsen nach Georgien, im April von Peace S. (Diebstahl, Hausfriedensbruch) von Baden-Württemberg nach Lagos und im Saarland vom Sexualstraftäter Gul Z. nach Pakistan. In einigen Fällen sind die Straftäter auf freiem Fuß, weil sie die Haftstrafe in Deutschland abgesessen haben.