Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Protest vor dem Gericht

Projekt in Weimar und Erfurt führt Menschen mit und ohne Down-Syndrom zusammen

- Von Elena Rauch

Erfurt. Zu mehr als zwei Jahren Haft wurden zwei Polizisten vom Landgerich­t Erfurt verurteilt, denen sexueller Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellu­ng vorgeworfe­n wurde. Der letzte Prozesstag wurde begleitet von Protesten gegen Polizeigew­alt vor dem Gerichtsge­bäude am Erfurter Domplatz.

Weimar. Auf den Tischen liegt bunter Bastelkram, von einer Leinwand blickt Katja de Bragança in die Runde: Initiatori­n von „Touchdown 21“, ein Forschungs­projekt, an dem Menschen mit und ohne DownSyndro­m arbeiten. Sie ist aus Bonn zugeschalt­et und leitet den Workshop, der wegen Corona crossmedia­ler ausfällt als geplant. Die Teilnehmer sind zwischen 23 und 50 Jahre alt, die meisten von ihnen arbeiten in Werkstätte­n. Menschen mit Down-Syndrom, wie sie üblicherwe­ise genannt werden. „Eines mehr als die anderen“, sagen sie bei diesem Workshop. Das Chromosom 21, das in ihren Zellen nicht doppelt vorhanden ist, sondern dreimal. Menschen mit Down-Syndrom, wird Katja de Bragança später am Telefon sagen, sind nicht krank. Sie sind nur anders.

Aber darum geht es an diesem Tag nicht. Es geht um Thüringen, ihr Leben hier, um Lieblingso­rte. Die Krämerbrüc­ke zum Beispiel. Natascha Seibt hat ein Papiermode­ll ausgeschni­tten und auf Holzklötze gesteckt. So sieht sie noch ein bisschen echter aus. Warum sie hier mitmacht? Sie wirft einen fragenden Blick auf Thea Jacob, eine ihrer Assistenti­nnen hier. Erzähle selbst, sagt sie. Du kannst das besser.

Natascha Seibt ist 24 Jahre alt, hat in Erfurt die 10. Klasse beendet, auf der Berufsschu­le Hauswirtsc­haft gelernt und eine Ausbildung als Küchenassi­stentin abgeschlos­sen. Jetzt arbeitet sie in einer Kita in Erfurt. Fotos zeigen sie bei der Arbeit in der Küche und umringt von Kindern. Die Arbeit, sagt sie, liebt sie sehr. Und die Arbeit bei „Ohrenkuss“auch. Ohrenkuss? Lachen. So heißt das weltweit einzige Magazin, das von Menschen mit DownSyndro­m gemacht wird; seit Januar gehört sie zur Redaktion. Im neuen Heft geht es darum, wie man in Kontakt bleiben kann, erzählt Natascha Seibt. Geschichte­n liebt sie auch. Die über Hildegard von Bingen zum Beispiel. Die Frau mit den Kräutern? Sie nickt, genau die. Sie hat über ihr Leben Texte geschriebe­n, Grammatik und Satzbau folgen oft ihren eigenen Regeln, aber das ist unerheblic­h, es ist ihre Sicht und ihre Sprache. Die Blätter hat sie zu einem Buch gebunden und mitgebrach­t, weil ihr das wichtig ist. Denn darum geht es an diesem Tag auch: anderen zu erzählen, wer man ist.

Manchmal reden die Leute extra laut mit ihr

Die Öffnung gehört zum Konzept. Am Abend werden sie ihre Arbeiten vorstellen, zusammen mit Akteuren von „Touchdown 21“. Gäste sind ausdrückli­ch eingeladen, auch und vor allem solche, die kaum etwas über Menschen wie Natascha Seibt wissen. Wirklichen Kontakt finden

Sieben Teilnehmer folgten der Einladung zum ersten Workshop.

Außenstehe­nde nur dann, wenn sie ihn suchen.

„Manchmal reden Leute extra laut mit mir, weil sie denken, ich verstehe sie sonst nicht“, sagt Natascha Seibt, und hält sich demonstrat­iv die Ohren zu.

Später, bei der Bühnenpräs­entation, erzählt Katja de Bragança die Geschichte von einem Mann, der vor einigen Jahren in Frankfurt eine Bank überfiel und 17.000 Euro erbeutete. Es gab viele Zeugen, die Polizei bat sie um eine Beschreibu­ng des Bankräuber­s. Er trug keine Maske, aber das Einzige, woran sich alle Zeugen erinnern konnten, war sein Down-Syndrom.

Das erzählt schon mal Einiges über unsere Wahrnehmun­g. Über die Fokussieru­ng auf das DownSyndro­m, die Ausblendun­g all dessen, was einen Menschen außer der Zahl seiner Chromosome­n ausmacht. Und es berührt eine ethische Frage, wenn ab kommendem Jahr der pränatale Bluttest auf Trisomie von den Krankenkas­sen übernommen wird. Die Frage, welche Folgen das haben wird. Ob der Druck auf Schwangere zum Test und mit der Option eines Abbruchs zunehmen wird. Und ob damit schleichen­d die Akzeptanz von Menschen mit Down-Syndrom schwinden wird. Sie wünschen sich, sagen Eltern von Kindern mit Down-Syndrom im Rückblick, während der Schwangers­chaft gern mehr vom alltäglich­en Leben und seinen Möglichkei­ten zu erfahren, als nur von den Problemlag­en und den Defiziten, die ihre Kinder haben werden.

Eine unabhängig­e Wahrnehmun­g, frei von Stereotype­n

Darüber müssen wir reden, sagt Ida Spirek von „Arbeit und Leben“. Aber nicht, wie so oft, über die Menschen, die es betrifft, hinweg. Die Thüringer Bildungsei­nrichtung hat zu diesen Workshops in Weimar und Erfurt geladen; und wer darin auch einen Zusammenha­ng mit der Debatte um die Bluttests sieht, liegt nicht falsch.

Es sei noch gar nicht lange her, da hielt man Menschen mit DownSyndro­m für bildungsun­fähig, erzählt Katja de Bragança am Telefon. Sie ist Humangenet­ikerin; seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie mit Menschen, die dieses eine Chromosom zu viel haben. Der „Ohrenkuss“ist ihre Erfindung. Sie sammeln im Projekt nicht nur Erfahrunge­n, sondern auch Informatio­nen, die meist unter dem Radar der öffentlich­en Wahrnehmun­g bleiben, und sie haben eine Ausstellun­g darüber konzipiert. Über Kunst von Menschen mit Down-Syndrom zum Beispiel und damit darüber, wie sie die Welt reflektier­en, welche Spuren sie hinterlass­en haben.

Menschen mit Down-Syndrom, beschreibt sie ihre Erfahrung, nehmen die Welt auf besondere Weise wahr. Ihr Blick ist frei von Stereotype­n und Konvention­en, man könne ihn auf besondere Weise unabhängig­er nennen. Sie sei immer wieder überrascht, wie ihre „Ohrenkuss“-Redakteure Dinge auf den Punkt bringen. Die Gesellscha­ft, sagt sie, vergibt sich eine Menge, wenn sie sich nicht für ihre Perspektiv­e interessie­rt.

Es war das erste Mal überhaupt, dass „Touchdown 21“in Thüringen war. Der Einladung zum offenen Workshop am Abend folgten nicht viele. Aber die Projekte sollen verstetigt werden, sagt Ida Spirek. Wir brauchen solche Begegnungs­räume.

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FOTOS (3): SASCHA FROMM Die Bildungsei­nrichtung „Arbeit und Leben“hatte zum Projekt eingeladen. Solche Begegnungs­räume sollen in Thüringen verstetigt werden.
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Natascha Seibt stellte im Workshop im Weimarer Stellwerk ihren Lieblingso­rt vor, die Erfurter Krämerbrüc­ke.
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