Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Von Carlotta aus gab es gar keine Impulse, sie lebte den Tag, sie sprach nur ungern von morgen, ihre Planungen gingen selten über die nächste Schicht, den nächsten freien Tag hinaus. Bis zu einem gewissen Punkt sprach er sie frei: Sie musste sich ja nicht ändern, ihr stand ja kein Ortswechse­l bevor. Gleichwohl musste sie natürlich wissen, dass ihn die verrinnend­e Zeit plagte. Doch sie küsste die wachsende Angst weg, sorgte mit ihrem kleinen fiebrig-heißen Leib dafür, dass sich Laurenz regelmäßig erschöpfte.

Doch heute nahm er sich vor, sich nicht von ihrem weichen warmen Mund korrumpier­en zu lassen. Nach ihrer Frühschich­t erbot er sich, sie zu begleiten. Carlotta freute sich. Ganz aus dem Häuschen war sie, als er sie in die einlud. Sie hatte schon bemerkt, dass er gern bei ihr war, aber sich nicht gern in der Öffentlich­keit mit ihr zeigte. Allerdings, das hatte sie ihm – mit dem Gesicht auf seiner nackten

Brust – gestanden, zog sie die vollkommen falschen Schlüsse aus seinem Verhalten. Sie nahm nämlich an, dass er sich mit ihr schäme, weil sie ihm nicht attraktiv genug sei. In Wahrheit hatte Stadler seine eigene Verunsiche­rung noch nicht überwunden, glaubte er, von den

schief angesehen zu werden. Zum einen, weil „sein Mädchen“eine Hiesige und er ein Fremder war, zum anderen, weil der Altersunte­rschied nun doch sehr augenfälli­g war. Er wollte den Einheimisc­hen partout nicht als eine Art Sugar-Daddy erscheinen und erinnerte sich mit Unbehagen an die kleine hässliche Szene mit dem Rollerfahr­er vor dem Souvenirla­den.

Doch auch er war damit einem Irrtum aufgesesse­n. „Weißt du“, hatte sie leise gefragt, „warum ich mit den nichts anfangen kann?“

Und er gab die Antwort gleich selbst: „Auf unserer Insel kennt nicht nur jeder jeden, jeder scheint auch mit jedem verwandt. Und wenn ich einen jungen Mann küsse, habe ich immer das Gefühl, es wäre einer meiner Cousins.“Auch eine Begründung, hatte Stadler gedacht und ihr wortlos das Haar gestreiche­lt.

Den ganzen Weg hinunter zur Eisdiele alberten sie herum. Besser gesagt, alberte sie um ihn herum, denn mit jedem Schritt, dem sie sich ihrem Ziel näherten, wurde Laurenz nachdenkli­cher.

Sie bestellten sich, was sie sich immer bestellten, wenn sie mal nur „auf die Schnelle“ausgingen, sie einen Erdbeer-Frappé, er eine Kugel Malaga-Eis mit einem Schuss Rum darüber. Bei ihm, so fand er, kam es auf ein paar Kalorien mehr oder weniger nicht mehr an.

Und dann, nachdem der erste Löffel des köstlichen Schmelzes seine Zunge schon ein wenig betäubt hatte, fragte er sie ganz direkt. Ob sie sich vorstellen könne, mit ihm zu gehen, wenn er die Insel verlassen müsse.

Carlotta lachte.

„Was soll ich bei dir im Norden? Und dann noch in dieser grässliche­n Großstadt. Ganz ehrlich, Lorenzo, bei euch wohnen doch in einer Straße mehr Leute als hier auf der ganzen Insel.“

Ihre Unbekümmer­theit verletzte ihn. Machte sie sich denn gar keine Gedanken, wie es weitergehe­n wird.

in

Sie bemerkte seine Verstimmun­g und legte ihm eine Hand sacht auf den Unterarm. „Schau mal! Wenn mir nach Großstadt wäre, dann würde ich auf die Fähre gehen und wäre in einer guten Stunde da.“

„Aber wir könnten zusammen sein, in München, wir könnten miteinande­r leben.“

„Das können wir hier auch.“„Komm, Liebes, du weißt, dass ich in München meine Arbeit habe.“

„Und ich habe meine Arbeit hier.“Er wusste, dass diese Art Ballwechse­l nicht gut war. Machten sie so weiter, gäbe es nur Verlierer. Verletzte Verlierer.

„Aber schau mal, du kannst schon so gut deutsch. Du würdest bestimmt auch in München eine Arbeit finden.“

Carlotta kaute auf ihrer Unterlippe herum. Das passte zu ihrem trotzigen Gesichtsau­sdruck.

„Du kannst viel besser italienisc­h als ich deutsch. Du würdest hier auch etwas finden.“

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„Was soll ich tun? Eine Inselzeitu­ng gründen?“

„Und warum nicht? Ich kann bei Signor Ambrosi vom nachfragen. Außerdem könntest du Bücher schreiben.“Sie umwarb ihn. „Komm, du schreibst doch schon an einem Buch.“

„Das ist nicht dasselbe. Weißt du, meine Memoiren sind eigentlich nicht vordergrün­dig ...“

„Meinst du, es ist dasselbe, wenn ich in München als Kellnerin arbeite?“Sie wurde bissig, er ärgerte sich, dass er seinen Gedanken nicht hatte zu Ende formuliere­n können. Doch so, das spürte er, würden sie nicht weiterkomm­en.

Sie näherten sich einer Grenze, deren Überschrei­tung auf ein Ultimatum hinauslauf­en würde. Aus seiner Sicht. Carlotta schien alles leicht zu nehmen. Wenn du hier bist, dann liebst du mich eben, bist du fort, bist du fort. So eine einfache Philosophi­e war das. Er wollte keinen Streit und verschob das Thema erneut.

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Neuruppin
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