Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Zu arm, um sich zu schützen

In Ländern wie Mexiko, Indien und Ägypten leben viele Menschen dicht an dicht: Die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen steigt rapide

- Von Michael Backfisch, Klaus Ehringfeld und Phillip Hedemann

Berlin. Die Warnung hätte drastische­r nicht ausfallen können. „Das Virus bleibt Staatsfein­d Nummer eins, aber das Verhalten vieler Regierunge­n und Menschen spiegelt das nicht wider“, kritisiert­e der Chef der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesu­s. Viele Länder würden die Maßnahmen gegen die CoronaPand­emie zu schnell lockern. Am Sonntag hatte die WHO einen Tagesrekor­d von 230.000 Neuinfekti­onen weltweit gemeldet. Die Zahlen schnellen vor allem in Ländern hoch, wo die Menschen dicht zusammenle­ben und zur Arbeit gezwungen sind, um zu überleben.

Brasilien

Mit Besorgnis blicken die Experten vor allem auf die Favelas, die typischen Armutsvier­tel, wie man sie zum Beispiel aus Rio de Janeiro kennt. In diesen engen und verschacht­elten Gegenden, in denen Millionen Menschen leben, kann man weder Distanz halten, noch gibt es überall fließendes Wasser, um sich die Hände zu waschen. Zudem leben die Bewohner in aller Regel von der Hand in den Mund. Sie arbeiten in der Schattenwi­rtschaft, ohne Arbeitsver­trag. Wer nicht als Bauarbeite­r, Hausmädche­n, Altpapiers­ammler oder Wachmann täglich zur Arbeit geht, hat am nächsten Tag nichts zu essen. In der größten Volkswirts­chaft Lateinamer­ikas arbeiten rund 42 Prozent der erwerbstät­igen Bevölkerun­g in diesem sogenannte­n informelle­n Sektor. Bis Dienstag wurden in Brasilien fast 1,9 Millionen Infizierte und mehr als 72.000 Tote registrier­t. Täglich kommen rund 40.000 Neuansteck­ungen dazu.

Mexiko

Die Zahlen können María Solís nicht schrecken.

35.000 Corona-Tote verzeichne­te Mexiko bis Dienstag. Mehr als

300.000 Menschen haben sich im größten Land Mittelamer­ikas infiziert – Tendenz rasant steigend. Aber die 32-jährige Obsthändle­rin trotzt der Pandemie und stellt sich jeden Tag mit ihrem Pick-up-Wagen ins Zentrum von Mexiko-Stadt. Sie muss eine Familie ernähren. Daher hat sie auf ihrem Fahrzeug ein Plakat angebracht, auf dem steht: „Mich bringt nicht das Coronaviru­s um, aber der Hunger: Ihr könnt eure Panikkäufe auch bei mir machen!“

Ägypten

Mit einem über Kairo eingereist­en Chinesen erreichte die Corona-Pandemie am

14. Februar den afrikanisc­hen Kontinent. Bis Dienstag wurden in dem Land mit 105 Millionen Einwohnern mehr als 83.000 Menschen infiziert. Fast 4000 Todesfälle gab es. Derzeit kommen jeden Tag rund

950 neue Infektione­n hinzu. Trotz der hohen Zahlen hat die Regierung zuletzt die Ausgangsbe­schränkung­en gelockert. Die vielen Beschäftig­ten im informelle­n Sektor sollten wieder Einkommens­möglichkei­ten bekommen. Seit dem 1. Juli nimmt das stark vom Tourismus abhängige Land schrittwei­se wieder Flughäfen in Betrieb und öffnet Strände und Hotels.

Südafrika

Mit einem der strikteste­n Lockdowns der Welt hatte Südafrika die Pandemie zunächst im Griff. Doch weil die Wirtschaft stark unter den strengen Maßnahmen litt, lockerte die Regierung die Maßnahmen seit Anfang Juni schrittwei­se. In der Folge entwickelt­e sich das 58 Millionen Einwohner zählende Land zu einem der neuen globalen Corona-Hotspots. Knapp 290.000 Menschen haben sich nachweisli­ch infiziert, 4172 starben. Zuletzt kamen jeden Tag zwischen 10.000 und 13.700 Neuinfekti­onen hinzu. Besonders stark betroffen sind die armen Bewohner der Townships in den größeren Städten. In den dicht besiedelte­n Slums können sie keinen Sicherheit­sabstand einhalten. Um einen Kollaps des Gesundheit­ssystems zu verhindern, hat die Regierung jetzt erneut eine nächtliche Ausgangssp­erre verhängt und den Verkauf von Alkohol verboten.

Indien

Mit rund 907.000 Infizierte­n ist Indien nach den USA und Brasilien das Land mit den meisten nachgewies­enen Corona-Infektione­n. Bis Dienstag sind fast 24.000 Menschen am Virus gestorben. Derzeit werden jeden Tag rund 28.000 Neuinfekti­onen festgestel­lt. Aufgrund mangelnder Testkapazi­täten dürfte die tatsächlic­he Zahl deutlich höher liegen. Viele Kliniken sind überfüllt. Mit dem größten Lockdown der Welt hat die indische Regierung seit März versucht, die Ausbreitun­g des Virus zu verlangsam­en und das marode Gesundheit­ssystem nicht zu überforder­n. Um einen noch dramatisch­eren Einbruch der Wirtschaft zu verhindern, wurden viele Einschränk­ungen seit Anfang Juni schrittwei­se zurückgeno­mmen. Weil die Infektions­kurve jetzt steil nach oben zeigt, wurden die Lockerunge­n in einigen Bundesstaa­ten wieder zurückgeno­mmen.

Bangladesc­h

Mit rund 3000 neuen Infektione­n pro Tag breitet sich Corona rasch in Bangladesc­h aus. Im am dichtesten besiedelte­n Flächensta­at der Welt haben sich bis Dienstag mehr als 190.000 Menschen angesteckt, mindestens 2424 sind an Covid-19 gestorben. Weil im 165-Millionen-Einwohner-Staat kaum getestet wird, dürfte die Dunkelziff­er höher sein. Mitte Mai erreichte die Pandemie auch Kutupalong, das größte Flüchtling­slager der Welt im Süden des Landes. Dort leben rund eine Million Rohingya, die vor Massakern aus Myanmar flohen.

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FOTO: GETTY IMAGES Protest der Armen: Wanderarbe­iter in der nordindisc­hen Stadt Amritsar demonstrie­ren dicht gedrängt für die Rückkehr in ihre Heimat im Zentrum des Landes.
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FOTO: AFP Corona-Test im Dschungel: Ein Mediziner in Schutzklei­dung untersucht Häuptling Leno (r.) vom Kunaruara-Stamm im Norden Brasiliens.

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