Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
Am nächsten Tag lud sie ihn für abends zu sich nach Hause ein. Abendbrot mit den Eltern. Kein formelles Essen, keine Einladung der Eltern, er solle einfach nur teilnehmen. Das gefiel Stadler gut. Vater und Mutter Petacchi hatten bislang keinen Hehl daraus gemacht, dass ihnen die Beziehung ihrer Tochter zu dem älteren Mann nicht behagte. Da konnte so ein Stück Normalität durchaus zum Abbau von Vorurteilen beitragen. Hoffte Stadler.
Sogar über Verhaltensregeln hatte ihn Carlotta instruiert: Bei Tisch kein Wort über Berlusconi, der sei ein rotes Tuch für ihren Vater.
Aber der Abend war unter dem Strich eine Enttäuschung. Die Petacchis hatten ein viertes Gedeck aufgelegt, das war auch schon alles. Sein artiges Kompliment, es sei schön, die Eltern wiederzusehen, wurde von Mutter Petacchi wenigstens noch mit einem „Willkommen“beantwortet, der Vater brummte nur ein „Guten Abend“.
Gabriele Petacchi, Staplerfahrer unten am Hafen, wie Stadler inzwischen wusste, gab sich sehr wortkarg. „Journalist sind sie also, eh?“, wollte er wissen, nachdem sie eine Weile annähernd schweigend gegessen hatten. Es klang barsch und abweisend. Doch sein Interesse erlosch alsbald, als er erfuhr, dass Kultur Stadlers Spezialstrecke war. Offensichtlich entsprang die Frage eher einer erzwungenen Höflichkeit als ehrlichem Interesse.
Carlottas Mutter Ilaria bemühte sich wenigstens um Freundlichkeit. Sie empfahl Stadler von den Antipasti, sie legte ihm ein Stück Fleisch auf und sie schenkte Wein nach. Doch immer wieder huschten ihre Augen hinüber zu ihrem Mann Gabriele, als bäte sie ihn um sein Einverständnis, gastfreundlich zu sein. Dann sprachen sie wieder mit ihrer Tochter über deren Arbeit und über frühere Klassenkameraden. Stadler war Luft für sie. Nur Carlotta bezog ihn in das Tischgespräch ein, legte ab und an eine Hand auf seinen Unterarm, erzählte von gelotta meinsamen Unternehmungen. Für Gabriele Petacchi war Stadler offenbar Luft, stellte er fest und fühlte sich zunehmend unwohl.
Auch später, in ihrem Zimmer, als sie sich kurz entschuldigte und noch einmal hinunter zu den Eltern ging. Was reden die da, fragte er sich. Und: Was tue ich hier eigentlich? Noch am Vortag hatte er Carin ein Gespräch über ein gemeinsames Leben verstrickt, hatte die Möglichkeiten dafür ausgelotet. Und nun saß er allein in diesem Zimmer, das ihm ohne Carlotta fremd und falsch vorkam. Vielleicht hatte er ja einen Platz in Carlottas Herz, in ihrer Familie würde er aber nur schwerlich einen finden. Sollte er nun um die Gunst dieser ihm fremden Menschen kämpfen oder mit ihr eine eigene Familie gründen? Schließlich, Carlottas Beziehungen zu ihren Eltern erschienen ihm auch alles andere als konfliktfrei. Vermutlich gehörte eine Frau mit 24 einfach nicht mehr ins Kinderzimmer ihres Elternhauses.
Die Wohnungssuche in München gestaltete sich etwas problematisch. Stadler war schon aufgrund der Entfernung auf das Internet angewiesen, auf die diversen Immobilien-Portale, die sich dort fanden. Aber sich für eine Wohnung zu entscheiden, die er nicht sehen konnte, das fiel ihm schwer. Er war ein Mensch der Sinne, er musste in den
Räumen sein, um ihren Charakter zu fühlen. War das Haus hellhörig? Roch es im Treppenhaus, und wenn ja, wonach? Und diese Aussicht ins Grüne: Hörte man dort die Blätter rauschen oder Kinder krakeelen? Gar den Verkehrslärm – das Satellitenbild zeigt eine dicht befahrene Straße ganz in der Nähe. Nein, so ging das einfach nicht. Doch entscheiden musste er sich.
Er hatte schon ein paar Stunden mit der Suche nach einer geeigneten Bleibe verbracht, als ihm mit Entsetzen auffiel, dass er bei der Wohnungssuche ausschließlich an sich gedacht hatte. Wohnen, Schlafen, Arbeiten ... und wo blieb Carlotta? Wo blieb eventuell ein Kind, ihr Kind, ihrer beider Kind? Bei dem Gedanken an ein Kleinkind in der Wohnung wurde Stadler ganz anders. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er Kinder mochte. Aber ihm war klar, dass ihn ein Kleinkind überfordern würde. Später, ja, wenn er ihm oder ihr Dinge beibringen könnte, wenn sie zu seinen Füßen spielten, er ihnen vorlesen konnte, das waren alles Sachen, die für ihn vorstellbar waren. Aber so ein kleiner Quälgeist, der immerfort lautstark Ansprüche stellen würde..., das irritierte ihn dann doch sehr.
Die Frage hatte sich in seinem Leben auch noch nie gestellt. Die Beziehungen, die er zu Frauen hatte, erreichten weder die Dauer noch die Tiefe, um über einen Kinderwunsch nachzudenken oder zu reden.
Andererseits musste er keine Wohnung für sie beide suchen, bevor nicht entschieden war, ob er die Heimreise allein oder mit ihr antreten würde.
Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, er würde nicht um das entscheidende Gespräch mit Carlotta herumkommen. So kam es, dass die beiden nach ein paar Tagen wieder mitten im Thema waren. Er wählte die Stunde nach dem Sex für das Gespräch, die Stunde, in der sie sich am meisten über sich erzählten.