Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
„NSU 2.0“nimmt Frauen ins Visier
Die Serie rechtsextremistischer Morddrohungen setzt sich fort. Ziel sind vor allem Frauen. Politikerinnen fordern Aufklärung – auch von der Polizei
Berlin. Idil Baydar, Janine Wissler, Anne Helm, Martina Renner, Seda Basay-Yildiz – und jetzt Helin Evrim Sommer. Sie haben zwei Dinge gemeinsam: Sie alle haben per E-Mail Morddrohungen erhalten, unterschrieben mit „NSU 2.0“. Und sie alle sind Frauen.
In der Serie von Drohschreiben, bei denen in mehreren Fällen die Spur zur hessischen Polizei führt, fordern Spitzenpolitikerinnen von Linke und Grünen jetzt umfassende Aufklärung und Schutz für die Betroffenen. Wer auch immer hinter dem „NSU 2.0“stecke, handle menschenverachtend, sagte LinkeChefin Katja Kipping unserer Redaktion. „Wer Frauen bedroht, weil sie Migrantinnen sind oder sich gegen rechts engagieren, bedroht unsere Demokratie.“Dass Rechte und Nazis keine emanzipierten Frauen mögen, wisse man nicht erst seit heute. „Der Staat hat die Aufgabe, etwaige rechte Polizeikreise aus dem Dienst zu entfernen und die bedrohten Frauen zu schützen.“
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth sagte unserer Redaktion, die aktuellen Drohungen würden deutlich zeigen, „dass Sexismus und Rassismus Hand in Hand gehen und untrennbar miteinander verbunden sind“. Für viele Frauen des öffentlichen Lebens gehöre es zum Alltag, Nachrichten mit sexistischen Beleidigungen, Drohungen und Vergewaltigungsfantasien zu erhalten. Frauen mit Migrationsgeschichte und Women of Colour seien davon besonders stark betroffen. „Seit einigen Jahren beobachten wir eine Radikalisierung und die Zunahme von solchen Aktivitäten“, so Roth weiter. „Es wird gezielt versucht, Frauen des öffentlichen Lebens zu terrorisieren und mundtot zu machen.“Frauen sollten aus dem öffentlichen und dem politischen Raum verdrängt werden. „Es ist staatliche Verantwortung, diese Bedrohungen in vollem Maße ernst zu nehmen, die Betroffenen zu schützen und wirksam gegen strukturellen Rassismus und Sexismus in unserer Gesellschaft vorzugehen“, sagte die Grünen-Politikerin. Denn in vielen Fällen bleibe es nicht bei Drohungen.
Der Linken-Bundestagsabgeordneten Sommer war nach Angaben ihrer Partei in einer E-Mail angedroht worden, es werde ihr ebenso ergehen wie dem ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU). Ihr Fall steht damit in einer Reihe, die bereits vor zwei Jahren begann. Damals bekam Basay-Yildiz die ersten Drohungen unter diesem Kürzel – mit Informationen, die über Computer der hessischen Polizei abgefragt worden waren. Mit der Unterschrift „NSU 2.0“nehmen die unbekannten Absender Bezug auf die einstige Terrorserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“(NSU). Die Gruppe hatte zehn Menschen ermordet und zahlreiche weitere verletzt. Insgesamt haben mindestens sechs Frauen per E-Mail Drohungen von „NSU 2.0“erhalten.
SPD-Chefin Saskia Esken hat vor diesem Hintergrund die Politik dazu aufgerufen, Rechtsextremismus bei der Polizei entschlossener zu bekämpfen. „In den letzten Monaten häufen sich die Hinweise auf rechtsextreme und gewaltbereite Täter und Netzwerke in den Reihen der Sicherheitsbehörden“, sagte sie unserer Redaktion. „Für die Politik muss das ein Alarmzeichen sein, jetzt endlich konsequent zu handeln.“Die Verdachtsfälle bei der hessischen Polizei müssten auch den politisch Verantwortlichen deutlich machen, „dass es sich hier nicht um bedauerliche Einzelfälle handelt“, betonte Esken.
Rechtes Netzwerk bei der Polizei?
Auch der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) räumt inzwischen ein, dass es ein rechtes Netzwerk bei der Polizei in dem Bundesland geben könnte. Der Fall hatte am Dienstag erste personelle Konsequenzen, als Landespolizeipräsident Udo Münch um seine Versetzung in einstweiligen Ruhestand bat, weil seine Behörde Informationen zu dem Fall nicht an das Innenministerium weitergegeben hatte.
Der Hamburger Polizeiforscher
Rafael Behr bezweifelt, dass damit wirklich die Wurzel des Problems angegangen wird. Münchs Rücktritt sei eine „politische Angelegenheit“, sagte er, „die in der Sache nichts verbessert.“Neben dem Thema Rechtsextremismus in der Polizei gehe es auch um die Zusammenarbeit der polizeilichen Funktionsträger, sagte Behr am Mittwoch. Möglicherweise hätten Reibungen in der Führungsspitze auch eine effektive Strafverfolgung und Ermittlungsarbeit eher behindert als befördert. Behr forscht zur Organisationskultur der Polizei, etwa zur „Cop Culture“, dem Schweigen nach außen bei internen Missständen. Es werde jetzt deutlich, dass es nicht nur in der „Cop Culture“einen Schweigekodex gebe, sondern auch in der „Top Culture“, also der Führungskultur, so Behr.
„Es wird gezielt versucht, Frauen des öffentlichen Lebens zu terrorisieren und mundtot zu machen.“
Claudia Roth, Grünen-Politikerin