Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
New York tastet sich zurück ins Leben
Nirgendwo sonst wütete das Virus so heftig – die Wiedereröffnungen kommen für viele Bürger zu spät
New York. Die Kreuzung von Lenox Avenue und 125th Street war schon immer das hektisch pumpende Herz von Harlem – jenem New Yorker Stadtteil, der für seine gemütlichen Jazzklubs, trendigen Restaurants und afroamerikanische Tradition bekannt ist. Die Corona-Seuche schlug auch hier brutal zu, zumindest vorübergehend. Doch wer heute die Straße überquert, der spürt nicht mehr, dass das Leben hier vor Wochen fast vollkommen zum Stillstand gekommen war.
An der Ecke gibt ein Rapper über einen mitgebrachten Verstärker seine Kunst zum Besten. Die Menschen, die sich um ihn herum scharen, swingen dankbar im Beat mit. Die afrikanischen Straßenhändler bieten wie immer ihre Duftessenzen und Tücher an der Straße feil. Die Tische der Restaurants rund um die Kreuzung sind schon am Nachmittag voll besetzt. Im Gewusel des Fußgängerverkehrs ist an Sicherheitsabstand – Social Distancing – kaum zu denken.
Jan Madembo genießt es, dass in Harlem das Leben zurückgekehrt ist. Vielleicht sogar mehr als irgendwo anders in New York. Die aus Simbabwe stammende Journalistin lebt seit über 20 Jahren im Zentrum von Harlem und ist heute auf der 125th Street unterwegs, um Besorgungen zu machen. „Die Straßen sind nirgendwo wieder so lebendig wie hier“, sagt sie.
„Ich war überall unterwegs. Nirgendwo sind die Straßen wieder so lebendig wie hier“Jan Madembo, Journalistin aus dem New Yorker Stadtteil Harlem
Ganz anders mitten in Manhattan. Rund um den Times Square etwa ist von Normalität noch keine Spur. Die Seitenstraßen, wo sich vor der Corona-Krise abends die Menschen an den Theaterkassen drängelten, um eine Broadway-Show zu sehen, bleiben ausgestorben. Die großen Kaufhäuser an der Fifth Avenue sind zwar geöffnet, aber leer. Die Verkäufer stehen gelangweilt und verloren in den riesigen Hallen.
Die Metropole befindet sich derzeit in einem Zwischenzustand. An vielen Ecken hat man das Gefühl, dass sich die sprichwörtliche New Yorker Energie rührt und der Stadt ihren unverkennbaren Rhythmus zurückgibt. An anderen Stellen drängt sich der Eindruck auf, dass sie vielleicht nie mehr dorthin zurückkehrt, wo sie vor Corona war.
Ein Arbeitsloser kann seit April keine Miete zahlen
New York war am Anfang der Krise der Corona-Hotspot Amerikas schlechthin. Ausgestorbene Straßen, überfüllte Intensivstationen, verzweifelt um Atemgeräte bittende Ärzte: Die Stadt schaute in den Abgrund. Doch Politiker wie der Gouverneur des Staates New York, Andrew Cuomo, zeigten, wie man das Virus bekämpfen kann. Nachdem mehr als 18.000 Menschen ihr Leben verloren hatten, feierte die Stadt in der vergangenen Woche den ersten Tag seit Mitte März, an dem kein einziger New Yorker am Coronavirus sterben musste.
Cuomo, ein Demokrat, verfolgte eine konsequente Politik mit klaren Worten. Auf einen knallharten
Lockdown folgte eine phasenweise Wiedereröffnung. Seit Anfang Juli können sich New Yorker wieder die Haare schneiden lassen und zum Zahnarzt gehen. Die Strände der Stadt sind offen, in den Parks wird wieder Basketball gespielt.
Die Büros in den Wolkenkratzern von Midtown dürfen mit eingeschränkter Kapazität wieder den Betrieb aufnehmen. Doch die meisten Firmen lassen die Angestellten noch immer nur ins Büro kommen, wenn es unbedingt nötig ist.
Für viele New Yorker kommt die Wiedereröffnung jedoch zu spät. Während sich in vielen Teilen der USA der Arbeitsmarkt erholt hat, sind die Statistiken in New York weiterhin finster. Seit Wochen liegt die Arbeitslosigkeit um die 20 Prozent. Bei vielen, die noch keinen Job gefunden haben, wird die Lage in diesen Tagen ernst. Ende Juli endet die Arbeitslosenhilfe des Bundes von 600 Dollar pro Woche. Gleichzeitig läuft für New Yorker zum Ende
Kundgebung gegen Rassismus im Stadtteil Brooklyn.
des Monats der vorübergehende Schutz gegen Zwangsräumungen aus. Ein Viertel der New Yorker Mieter ist mit drei Monatsraten oder mehr im Verzug. Vielen droht nun die Obdachlosigkeit.
Julio Pena aus der Bronx etwa weiß nicht, wie es für seine Familie weitergehen soll. Sein Vater, der in einem Supermarkt gearbeitet hat, ist an dem Virus gestorben. Er selbst hat seine Arbeit verloren. Nun lebt er allein mit seiner Großmutter in einer Dreizimmerwohnung in der South Bronx. Seit April konnte er keine Miete mehr zahlen. Der Vermieter hat ihm bereits eine gerichtliche Verfügung zugestellt.
Den Immobilienbesitzern kann derweil selbst eine Welle von Zwangsräumungen nur begrenzt helfen. Nun befürchtet man ähnliche Zustände wie in den 70er-Jahren, als Vermieter ihre Gebäude verwahrlosen ließen und damit eine Verslumung von Vierteln wie Harlem und der Bronx auslösten.
Mehr Schießereien und Gewaltverbrechen – sogar am Nationalfeiertag
Schon jetzt mehren sich die Anzeichen, dass die schlimmen Tage jener Epoche wiederkehren könnten. Rund um den Nationalfeiertag am 4. Juli erlebte die Stadt einen Ausbruch an Gewaltverbrechen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Im Juni wüteten in New York 205 Schießereien. Eine derartige Monatsbilanz gab es zuletzt 1996.
Infolge der Proteste gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt fühlen sich die Ordnungshüter von der Politik an die Leine gelegt. New Yorker Politiker wie der Stadtverordnete Rory Lancman werfen hingegen der Polizei vor, aus Trotz gegen die Proteste ihren Job nicht ordentlich zu erledigen. „Wenn der Polizeichef es nicht schafft, ohne exzessive Gewalt Ordnung zu halten, dann muss er ausgetauscht werden.“Der Trotz der Polizei dürfte sich aber auch gegen den Beschluss von Bürgermeister Bill de Blasio gewendet haben, das Polizeibudget um eine Milliarde Dollar zu kürzen.
Die New Yorker haben dennoch die Lust an ihrer Stadt nicht verloren. Der Schriftsteller Jeremiah Moss genießt den Sommer ohne Touristen, läuft ungestört über die Brooklyn Bridge und will bald Museen ohne Touristenschlangen anschauen. „Endlich gehört New York wieder den New Yorkern“, sagt er.