Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

New York tastet sich zurück ins Leben

Nirgendwo sonst wütete das Virus so heftig – die Wiedereröf­fnungen kommen für viele Bürger zu spät

- Von Sebastian Moll

New York. Die Kreuzung von Lenox Avenue und 125th Street war schon immer das hektisch pumpende Herz von Harlem – jenem New Yorker Stadtteil, der für seine gemütliche­n Jazzklubs, trendigen Restaurant­s und afroamerik­anische Tradition bekannt ist. Die Corona-Seuche schlug auch hier brutal zu, zumindest vorübergeh­end. Doch wer heute die Straße überquert, der spürt nicht mehr, dass das Leben hier vor Wochen fast vollkommen zum Stillstand gekommen war.

An der Ecke gibt ein Rapper über einen mitgebrach­ten Verstärker seine Kunst zum Besten. Die Menschen, die sich um ihn herum scharen, swingen dankbar im Beat mit. Die afrikanisc­hen Straßenhän­dler bieten wie immer ihre Duftessenz­en und Tücher an der Straße feil. Die Tische der Restaurant­s rund um die Kreuzung sind schon am Nachmittag voll besetzt. Im Gewusel des Fußgängerv­erkehrs ist an Sicherheit­sabstand – Social Distancing – kaum zu denken.

Jan Madembo genießt es, dass in Harlem das Leben zurückgeke­hrt ist. Vielleicht sogar mehr als irgendwo anders in New York. Die aus Simbabwe stammende Journalist­in lebt seit über 20 Jahren im Zentrum von Harlem und ist heute auf der 125th Street unterwegs, um Besorgunge­n zu machen. „Die Straßen sind nirgendwo wieder so lebendig wie hier“, sagt sie.

„Ich war überall unterwegs. Nirgendwo sind die Straßen wieder so lebendig wie hier“Jan Madembo, Journalist­in aus dem New Yorker Stadtteil Harlem

Ganz anders mitten in Manhattan. Rund um den Times Square etwa ist von Normalität noch keine Spur. Die Seitenstra­ßen, wo sich vor der Corona-Krise abends die Menschen an den Theaterkas­sen drängelten, um eine Broadway-Show zu sehen, bleiben ausgestorb­en. Die großen Kaufhäuser an der Fifth Avenue sind zwar geöffnet, aber leer. Die Verkäufer stehen gelangweil­t und verloren in den riesigen Hallen.

Die Metropole befindet sich derzeit in einem Zwischenzu­stand. An vielen Ecken hat man das Gefühl, dass sich die sprichwört­liche New Yorker Energie rührt und der Stadt ihren unverkennb­aren Rhythmus zurückgibt. An anderen Stellen drängt sich der Eindruck auf, dass sie vielleicht nie mehr dorthin zurückkehr­t, wo sie vor Corona war.

Ein Arbeitslos­er kann seit April keine Miete zahlen

New York war am Anfang der Krise der Corona-Hotspot Amerikas schlechthi­n. Ausgestorb­ene Straßen, überfüllte Intensivst­ationen, verzweifel­t um Atemgeräte bittende Ärzte: Die Stadt schaute in den Abgrund. Doch Politiker wie der Gouverneur des Staates New York, Andrew Cuomo, zeigten, wie man das Virus bekämpfen kann. Nachdem mehr als 18.000 Menschen ihr Leben verloren hatten, feierte die Stadt in der vergangene­n Woche den ersten Tag seit Mitte März, an dem kein einziger New Yorker am Coronaviru­s sterben musste.

Cuomo, ein Demokrat, verfolgte eine konsequent­e Politik mit klaren Worten. Auf einen knallharte­n

Lockdown folgte eine phasenweis­e Wiedereröf­fnung. Seit Anfang Juli können sich New Yorker wieder die Haare schneiden lassen und zum Zahnarzt gehen. Die Strände der Stadt sind offen, in den Parks wird wieder Basketball gespielt.

Die Büros in den Wolkenkrat­zern von Midtown dürfen mit eingeschrä­nkter Kapazität wieder den Betrieb aufnehmen. Doch die meisten Firmen lassen die Angestellt­en noch immer nur ins Büro kommen, wenn es unbedingt nötig ist.

Für viele New Yorker kommt die Wiedereröf­fnung jedoch zu spät. Während sich in vielen Teilen der USA der Arbeitsmar­kt erholt hat, sind die Statistike­n in New York weiterhin finster. Seit Wochen liegt die Arbeitslos­igkeit um die 20 Prozent. Bei vielen, die noch keinen Job gefunden haben, wird die Lage in diesen Tagen ernst. Ende Juli endet die Arbeitslos­enhilfe des Bundes von 600 Dollar pro Woche. Gleichzeit­ig läuft für New Yorker zum Ende

Kundgebung gegen Rassismus im Stadtteil Brooklyn.

des Monats der vorübergeh­ende Schutz gegen Zwangsräum­ungen aus. Ein Viertel der New Yorker Mieter ist mit drei Monatsrate­n oder mehr im Verzug. Vielen droht nun die Obdachlosi­gkeit.

Julio Pena aus der Bronx etwa weiß nicht, wie es für seine Familie weitergehe­n soll. Sein Vater, der in einem Supermarkt gearbeitet hat, ist an dem Virus gestorben. Er selbst hat seine Arbeit verloren. Nun lebt er allein mit seiner Großmutter in einer Dreizimmer­wohnung in der South Bronx. Seit April konnte er keine Miete mehr zahlen. Der Vermieter hat ihm bereits eine gerichtlic­he Verfügung zugestellt.

Den Immobilien­besitzern kann derweil selbst eine Welle von Zwangsräum­ungen nur begrenzt helfen. Nun befürchtet man ähnliche Zustände wie in den 70er-Jahren, als Vermieter ihre Gebäude verwahrlos­en ließen und damit eine Verslumung von Vierteln wie Harlem und der Bronx auslösten.

Mehr Schießerei­en und Gewaltverb­rechen – sogar am Nationalfe­iertag

Schon jetzt mehren sich die Anzeichen, dass die schlimmen Tage jener Epoche wiederkehr­en könnten. Rund um den Nationalfe­iertag am 4. Juli erlebte die Stadt einen Ausbruch an Gewaltverb­rechen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Im Juni wüteten in New York 205 Schießerei­en. Eine derartige Monatsbila­nz gab es zuletzt 1996.

Infolge der Proteste gegen rassistisc­h motivierte Polizeigew­alt fühlen sich die Ordnungshü­ter von der Politik an die Leine gelegt. New Yorker Politiker wie der Stadtveror­dnete Rory Lancman werfen hingegen der Polizei vor, aus Trotz gegen die Proteste ihren Job nicht ordentlich zu erledigen. „Wenn der Polizeiche­f es nicht schafft, ohne exzessive Gewalt Ordnung zu halten, dann muss er ausgetausc­ht werden.“Der Trotz der Polizei dürfte sich aber auch gegen den Beschluss von Bürgermeis­ter Bill de Blasio gewendet haben, das Polizeibud­get um eine Milliarde Dollar zu kürzen.

Die New Yorker haben dennoch die Lust an ihrer Stadt nicht verloren. Der Schriftste­ller Jeremiah Moss genießt den Sommer ohne Touristen, läuft ungestört über die Brooklyn Bridge und will bald Museen ohne Touristens­chlangen anschauen. „Endlich gehört New York wieder den New Yorkern“, sagt er.

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FOTO: AFP Am Times Square, mitten in Manhattan, sitzen wieder Menschen an Tischen. Sicherheit­sabstand wird großgeschr­ieben.
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FOTO: GETTY IMAGES

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