Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
AfD-Abgeordneten drohen Ermittlungsverfahren
Bundestag prüft strafrechtliche Konsequenzen. Politiker hatten Störer ins Gebäude eingeladen
Berlin. Der Bundestag prüft strafrechtliche Konsequenzen gegen die AfD-Abgeordneten, die an den Vorfällen während der Beratungen über das Infektionsschutzgesetz beteiligt waren. Zudem will er das rechtliche Instrumentarium voll ausschöpfen. Für die AfD-Abgeordneten könnte das nach einer Aufhebung ihrer Immunität Ermittlungsverfahren zur Folge haben. Darauf verständigte sich am Donnerstag der Ältestenrat, wie die Deutsche Presse-Agentur erfuhr. Der rechtliche Ansatzpunkt wäre Paragraf 106 Strafgesetzbuch (Nötigung des Bundespräsidenten und von Mitgliedern eines Verfassungsorgans). Abgeordnete, auf deren Einladung die Störer in den Bundestag gekommen waren, könnten sich der Beihilfe schuldig gemacht haben.
Während der Bundestagsdebatte waren am Mittwoch auf den Fluren des Reichstagsgebäudes Abgeordnete von Besuchern bedrängt, gefilmt und beleidigt worden, unter anderem Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle. Im Fall von Altmaier filmten die Störer die Aktion und stellten das Video ins Internet. Aus einem Sicherheitsbericht der Bundestagspolizei geht hervor, dass die insgesamt vier Besucher von den drei AfD-Abgeordneten Udo Hemmelgarn, Petr Bystron und Hansjörg Müller eingeladen worden waren.
Berlin. Es sind befremdliche Videoszenen: Im Reichstagsgebäude bedrängt eine Frau Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, filmt und beschimpft ihn, bis er sich in einen Fahrstuhl retten kann. Auf anderen Videos ziehen Männer johlend und pöbelnd durch den Bundestag. Die Aufnahmen entstanden, während das Parlament über das neue Infektionsschutzgesetz diskutierte. Das soll jetzt Folgen haben.
Was ist passiert?
Mehrere Medienaktivisten der rechten Szene waren am Mittwoch in den Gebäuden des Bundestags unterwegs. Sie verfolgten Parlamentarier und beleidigten sie. Auf Twitter verbreitete sich vor allem die Szene mit der Verbalattacke gegen Altmaier. Es handelt sich dabei um Rebecca Sommer, die in der Vergangenheit unter anderem Beiträge für die rechtspopulistische Webseite „Tichys Einblick“geschrieben hat. Im Video sagt sie über Altmaier: „Er hat kein Gewissen, dieser Mann.“Dieser entgegnet, er vertrete seine Wähler, die Frau sei Teil einer kleinen Minderheit. Als der Minister den Aufzug betritt, beschimpft ihn Sommer als „Arschloch“. Auf ihrer
Facebook-Seite schrieb sie später, sie habe die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt sprechen wollen.
„Ich halte das für einen beispiellosen Vorgang.“Petra Pau (Linke), Bundestagsvizepräsidentin
Zu hören ist auf dem Video außerdem der verschwörungsideologische Youtuber Thorsten Schulte, bekannt als „Silberjunge“. Inzwischen öffentlich nicht mehr zugängliche Videos zeigen einen weiteren Youtuber aus dem rechten Spektrum, der unter dem Namen Elijah Tee arbeitet. Er sendete einen über einstündigen Livestream aus dem Bundestag, filmte verbotenerweise im Keller und in den Gängen zu den Abgeordnetenbüros.
Zwei Aktivisten sollen außerdem versucht haben, in die Büros der Fraktionsvorsitzenden von Union und SPD, Ralph Brinkhaus und Rolf Mützenich, einzudringen, scheiterten aber.
Zugang bekommen hatten Sommer und die anderen über AfD-Abgeordnete. Schulte habe ihn in der vergangenen Woche um einen Besucherausweis für den Mittwoch gebeten, bestätigte der AfD-Abgeordnete Udo Hemmelgarn unserer Redaktion. Laut Hemmelgarn kennen sich die beiden seit Längerem. Rebecca Sommer gelangte nach Informationen unserer Redaktion über den AfD-Abgeordneten Petr Bystron ins Reichstagsgebäude. Dort war sie teilweise ohne Begleitung unterwegs, was verboten ist. Bystron bestreitet, dass sie sein Gast war. Außerdem soll der Abgeordnete Hansjörg Müller (AfD) laut einem Bericht der Bundestagspolizei die Aktivistin Daniela Scheible ins Gebäude gelassen haben.
Wie sind die Regeln?
Die Hausordnung des Bundestags hat die Sechs-Personen-Regel: Abgeordnete können jeweils sechs unangemeldete Personen mit ins Haus nehmen, ohne dass deren Personalien erfasst werden. Normalerweise muss jeder Gast angemeldet werden. Die Bundestagspolizei überprüft dann, ob gegen die Person etwas vorliegt, bevor Zutritt gewährt wird. Diese Sechs-Personen-Regel war für den Tag der Debatte über das Infektionsschutzgesetz aber außer Kraft gesetzt. Alle Besucher mussten vorab angemeldet werden. Gäste erhalten einen orangefarbenen Ausweis. Anders als Journalisten dürfen sie sich in den Räumen des Bundestags nicht allein, sondern nur in Begleitung des Abgeordneten oder seiner Mitarbeiter bewegen. Filmaufnahmen dürfen sie nur dann machen, wenn diese im Zusammenhang mit der Arbeit des Abgeordneten stehen.
Für die Sicherheit im Bundestag ist die Bundestagspolizei zuständig. Wird ihr ein Verstoß gegen die Hausordnung gemeldet, kann sie den Gast des Gebäudes verweisen. Nach Informationen unserer Redaktion gab es allerdings am Mittwoch zunächst keine Meldung. Auch Altmaier wandte sich nicht an die Bundestagspolizei.
Welche Folgen drohen?
Am Donnerstag beschloss der Ältestenrat des Bundestags, strafrechtliche Konsequenzen wegen der Vorfälle zu prüfen. Ein Hebel ist Paragraf 106 des Strafgesetzbuches. Demnach kann die Behinderung oder Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans „mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft“werden. Auf Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgans oder der Regierung wie im Fall von Altmaier steht sogar eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Die AfD-Abgeordneten, die den Störern Zugang verschafft hatten, könnten sich der Beihilfe schuldig gemacht haben. Außerdem wird geprüft, ein Hausverbot gegen die vier Besucher auszusprechen, die zum Teil bereits vorher auffällig geworden waren. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) sagte unserer Redaktion: „Ich halte es für einen beispiellosen Vorgang, wie hier die Integrität des Bundestags und die einzelner Abgeordneter angegriffen wurde. Hier müssen alle strafrechtlichen Möglichkeiten geprüft und gegebenenfalls angewandt werden.“SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich warnte: „Es passiert immer wieder, dass die AfD versucht, parlamentarische Abläufe zu stören oder verächtlich zu machen. Neu ist, dass sie dazu auch zwielichtige Komplizen von außen verdeckt in die Bundestagsgebäude einschleusen.“Man könne jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen, sondern müsse zeigen, dass man in der Lage sei, „unsere Demokratie und die parlamentarische Arbeit zu schützen“. Union und SPD haben für Freitagmorgen eine Aktuelle Stunde zu den Vorfällen beantragt. Über 120 Abgeordnete forderten zudem Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) in einem Brief auf, „Maßnahmen zu ergreifen, die zukünftig solche Situationen unmöglich machen“. Initiator war der CDU-Parlamentarier Kai Whittaker.
Die beiden AfD-Fraktionschefs Alice Weidel und Alexander Gauland veröffentlichten am Donnerstag eine Erklärung, in der sie das Verhalten der Aktivisten als „inakzeptabel“bedauerten.