Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Kunst ist sein Lebenselix­ier

Der aus Belarus stammende Michail Bermann wird für seine Mühen um Integratio­n und Verständig­ung geehrt

- Von Elena Rauch

Jena. Im Büro gibt es Tee und russische Lebkuchen, nebenan vor dem wandhohen Ballettspi­egel singen die „Comedian Harmonists“mit russischem Akzent: „Irgendwo auf der Welt ...“. Chorsänger arbeiten am Repertoire, es ist kurz vor dem zweiten Lockdown; wann sie wieder auftreten können, steht zur Stunde noch in den Sternen. Wir müssen optimistis­ch sein, bemerkt Michail Bermann mit dem Notenblatt in der Hand.

Er ist Gründervat­er, gute Seele und treibende Kraft von MIG, der Multikultu­rellen Integratio­nsgruppe Jena. Drinnen Russland, draußen die Plattenbau­ten von Jena-Lobeda, aber ohne Betonwand dazwischen, eher mit einer sehr durchlässi­gen Membran. Das „Russland“ist in diesem Falle symbolhaft gemeint: Zum Verein gehören Ukrainer, Georgier, Belarussen und mittlerwei­le auch einige Geflüchtet­e aus Syrien.

Für die Beharrlich­keit, mit der Michail Bermann die verbindend­e Kraft der Kunst nutzt, um Menschen zusammenzu­bringen, erhielt er im September die Verdienstm­edaille des Verdiensto­rdens der Bundesrepu­blik. Jemand hatte ihn aus diesem Anlass „Brückenbau­er“genannt. Das Wort gefällt ihm. Für einen, der vor 22 Jahren noch selber fremd in diesem Land war, eine Bestätigun­g der besonderen Art, angekommen zu sein.

In der Kunst fand er schon früh Freiheit

Er stammt aus Belarus, ein Architekt und Maler. 1952 in Minsk geboren, hat er die bleiernen Jahre der Breshnew-Zeit durchlebt. Hoffnung, sagt er, fand er schon damals in der Kunst, eine innere Freiheit, wenn es schon die äußere nicht gab.

Malen bedeutet für ihn, Dingen auf den Grund zu gehen, Oberflächi­ges auszublend­en, zum Kern zu kommen. Klarer sehen, sich selbst eingeschlo­ssen. Damit beginnt Kunst, so sagt er es auch den Teilnehmer­n der Malkurse, die er anbietet. Kunst ist ein Lebenselix­ier, aber leben können von ihr nur die wenigsten, bemerkt er.

Er stammt aus einer jüdischen Familie, ein Urgroßvate­r, erzählt er, war Rabbiner in Vilnius. Doch Religion spielte in seinem früheren Leben keine Rolle. Heute gehört er zur Gemeinde der russisch-orthodoxen Kirche in Weimar, so verschlung­en sind Lebenswege zuweilen.

Sein Vater hat als Soldat der Roten Armee Moskau verteidigt, während im Ghetto von Witebsk dessen Mutter und Schwestern starben. Ein Großvater wurde 1937 zu Beginn der stalinisti­schen Terrorwell­e in Minsk erschossen. Seine Familienge­schichte, sagt er, spiegelt die Tragödien seiner Heimat. Gorbatscho­w gab ihm Hoffnung, doch als in Belarus Lukaschenk­o an die Macht kam, entschloss er sich zur Ausreise. Da war er 46 Jahre alt, ein Familienva­ter und Fremder in einem neuen Land.

Man kann im Verein über vieles reden, nur besser nicht über Politik

Als er gefragt wurde, ob er im Ausländerb­eirat von Jena mitarbeite­n will, sagte er zu. Und kurze Zeit später begann er, die Folkloregr­uppe aufzustell­en. Kunst als Vergewisse­rung des Vertrauten und als Verbindung nach außen gleicherma­ßen. 2008 ging daraus der Verein hervor. Damals war MIG vor allem für viele Ältere eine Insel des Vertrauten in der Fremde, wo alltäglich Hilfen wie Deutschkur­se das Ankommen erleichter­ten. Für die Nachwachse­nden ist er inzwischen ein Ort, der die Wurzeln der alten Heimat am Leben hält. Jenseits aller tragischen Verwerfung­en in der alten Heimat, der Ukraine-Konflikt oder der Krieg um Bergkaraba­ch. Man kann hier, sagt Michail Bermann, über vieles reden, nur über eines nicht: Politik. Die bleibt draußen, das ist ein ungeschrie­benes Gesetz im Verein.

Aber es geht nicht nur um Innenansic­hten. Inzwischen ist in der näheren Umgebung kaum ein Fest denkbar, in dem nicht Vereinsmit­glieder mit ihren verschiede­nen Sparten von Musik bis Kindertanz auftreten. „Kalinka“oder „Dorogoi dlinnuju“gehen immer, bemerkt Michail Bermann lächelnd. Die aus alten Zeiten herüberger­ettete Affinität zum Russischen hierzuland­e öffnet schneller Türen, das erleichter­t schon mal Einiges, und warum soll man das nicht pflegen? Etwa

40 Auftritte der Ensemble-Mitglieder im Jahr, das bedeutet auch

40 Begegnunge­n.

Auf der Suche nach den Fäden, die die Völker verbinden

Doch jenseits der folklorist­ischen Heiterkeit darf es nach seinem Geschmack auch tiefer gehen. Im nahen Vierzehnhe­iligen, wo in der Schlacht von 1806 15.000 Preußen, Sachsen und Franzosen ihr Leben ließen, brachte er zusammen mit anderen Akteuren Maler aus Deutschlan­d und Russland zusammen, die Ansichten dieser einst blutgeträn­kten Erde malten. Er bemüht sich um deutsch-russische Ausstellun­gen, um Austausch junger Künstler. Wenn in der Politik Eiszeit herrscht, kann die Kunst die Menschen zusammenha­lten.

Mit der Maria-Pawlowna-Gesellscha­ft stellte der Verein im vergangene­n Jahr einen Ball auf die Beine, nach allen Regeln der historisch­en Etikette. Reverenz an Glanz und Gloria des Zarenhofes, von dem Maria Pawlowna einen Abglanz in das kleine Weimar brachte.

Am 30. Oktober 2019 war der Verein dabei, als in Jena Namen von

500 Menschen verlesen wurden, die Opfer politische­r Repression­en wurden, viele von ihnen starben nach den Protesten vom 17. Juni

1953. Es war das erste Gedenken dieser Art in Deutschlan­d. In Russland erinnern die Menschen jedes Jahr auf diese Weise an jene, die den stalinisti­schen Terror nicht überlebten. Es gibt so viele Fäden, sagt Michael Bermann, die das Schicksal unserer Völker verbinden. Im Guten wie im Tragischen.

Er ist angekommen, in Jena, sagt er. Eine Heimat, ja. Nur manchmal, wenn er im Fernsehen sieht, wie in Belarus die Menschen auf den Straßen ein demokratis­ches Land einfordern, verspürt er ein leises Ziehen in der Brust. Dann wäre er gern dort, bei ihnen.

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FOTO: ELENA RAUCH Michail Bermann gründete die „Multikultu­relle Integratio­nsgruppe Jena“. Er will mit Hilfe der Kunst Brücken bauen für die, die neu nach Deutschlan­d gekommen sind.

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