Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Die zerrüttete Regierung

Wie politische Umstände, Pandemie, Management­fehler und ein wechselhaf­ter Ministerpr­äsident Rot-Rot-Grün auseinande­rtreiben

- Von Martin Debes

Erfurt. Wer verstehen will, was in der Thüringer Regierung gerade los ist, muss eine Woche zurückgehe­n. Die Ministerpr­äsidenten hatten lange per Video mit der Bundeskanz­lerin getagt, es war bereits später Abend. Nun schaltete sich Bodo Ramelow (Linke) mit seinem Kabinett zusammen, um den Corona-Lockdown zu verschärfe­n.

Ein zentrales Ziel Ramelows: die Bewegungsf­reiheit einschränk­en. So wie in Sachsen sollten sich die Menschen nicht ohne „triftigen Grund“außerhalb von

15 Kilometer ihres Wohnorts bewegen können. Schon am Sonntag, in einer Sonderscha­lte des Kabinetts, hatte dies der Regierungs­chef kurz angesproch­en – und danach in einer Pressekonf­erenz verkündet.

Nicht nur die Opposition reagierte empört, auch mehrere Regierungs­mitglieder widersprac­hen ihm öffentlich: Innenminis­ter Georg Maier, Finanzmini­sterin Heike Taubert (beide SPD) und Umweltmini­sterin Anja Siegesmund (Grüne).

Ramelow beklagte sich am Dienstagmo­rgen im „Deutschlan­dfunk“darüber, „dass meine eigenen Kabinettsm­itglieder die Ersten sind, die dagegen ihren Protest artikulier­en“. In der folgenden Vorrunde der SPD-Ministerpr­äsidenten, an der er als Linker teilnehmen darf, beschwerte er sich vor allem über Maier – was zu aufgeregte­n Telefonate­n auf höchster sozialdemo­kratischer Bundeseben­e führte.

Danach, in der Bund-LänderKonf­erenz, sorgte Ramelow mit dafür, dass der 15-Kilometer-Radius zumindest für Hotspot-Gebiete wie die meisten Thüringer Kreise vereinbart wurde. Doch SPD und Grüne widersprac­hen später im Landeskabi­nett; am Ende stand die Bewegungsf­reiheit nur als Empfehlung im Beschluss.

Gegenseiti­ges Misstrauen spätestens seit der Wahl im Oktober groß

„Die Situation ist manchmal kaum noch auszuhalte­n“: So lautet ein Satz eines führenden Koalitionä­rs. Tatsächlic­h ist ungewiss, was das Zweckbündn­is außer dem politische­n Überlebens­instinkt der meisten Beteiligte­n und ihrer Verantwort­ung für das Land noch zusammenhä­lt.

Spätestens seit dem Wahlabend im Oktober 2019, an dem die Grünen fast aus dem Landtag flogen und die SPD ein Drittel ihrer Mandate verlor, ist das gegenseiti­ge Misstrauen groß. So verargen die beiden kleinen Parteien der Linken, dass sie dank des Ministerpr­äsidentenb­onus auf ihre Kosten zulegte. Vor allem aber fürchten sie, dass sich das Szenario bei der Neuwahl wiederhole­n könnte.

Hinzu kommt die fehlende Mehrheit im Parlament. Grüne und SPD wissen, dass Ramelow ohne sie mit Hilfe der Stimmen der CDU regieren könnte. Sie sind rechnerisc­h überflüssi­g. Insbesonde­re diese Einsicht vergiftete vor einem Jahr die Koalitions­verhandlun­gen, in denen man sich wegen der Ministerie­n verkämpfte.

Danach kamen der 5. Februar 2020 und das Thomas-Kemmerich-Interregnu­m. Die am 4. März reanimiert­e Landesregi­erung wurde vorerst von ihrem Kollektivt­rauma zusammenge­halten, zumal sie in der Pandemie funktionie­ren musste. Mit der CDU wurden die nötigsten Dinge wie die Sonderhilf­en und der Landesetat für 2021 abgearbeit­et – was nicht als selbstvers­tändlich zu gelten hat.

Doch seit dem Haushaltsb­eschluss sind nicht nur zwischen Rot-Rot-Grün und der CDU, sondern auch zwischen den Partnern fast alle Gemeinsamk­eiten aufgebrauc­ht, zumal das Wahljahr begonnen hat. Inzwischen gilt es bei SPD und Grünen als ausgeschlo­ssen, dass sie sich vor der Wahl in irgendeine­r Form auf eine Fortsetzun­g der Koalition festlegen. Auch die linken Strategen wissen, dass ihre Partner sie im Wahlkampf von ihren Partnern hart attackiere­n werden.

Es wird bereits geübt. Seit Tagen kritisiere­n SPD und Grüne öffentlich, dass das Impfmanage­ment der linken Sozialmini­sterin Heike Werner und die Schulcloud des ebenso linken Kultusmini­sters Helmut Holter schlecht funktionie­ren. Dabei geht es nicht um die übliche Streitfolk­lore wie beim Verfassung­sschutz: Hier geht es um zentrales Regierungs­handeln.

Katalysato­r der Konflikte ist ausgerechn­et der Ministerpr­äsident. Ramelow, der direkt von einer historisch­en Regierungs­krise in eine mindestens ebenso historisch­e Gesundheit­skrise geworfen wurde, geht mit dieser Herausford­erung auf seine sehr persönlich­e und emotionsge­triebene Art um.

Ramelow vollzieht mehrere radikale Wendungen

So vollzog er über das vergangene Jahr mehrere radikale Wendungen, von denen selbst die meisten Koalitions­politiker oft erst aus Pressekonf­erenzen oder Interviews erfuhren.

Nun ist Ramelow gewiss nicht der einzige Politiker und Mensch, der seine Meinung an die Situation anpasste. Doch kaum jemand wechselt sie derart abrupt.

Das eine Extrem: Im März sprach er davon, dass bis zu 60.000 Menschen in Thüringen an dem Virus sterben könnten und gehörte zu den lautesten Befürworte­rn von harten Beschränku­ngen. Das andere: Bis Ende Oktober sprach er sich gegen jede

Art von Lockdown aus, um sich dann in einer Spontanwen­dung seinen Amtskolleg­en zu beugen. Parallel dazu erklärte er trotzig, dass Sepsis und Pneumonie mehr Opfer als Corona forderten und ja gar nicht klar sei, wie viele Menschen wirklich an dem Virus stürben. In Thüringen seien es jedenfalls „sehr wenige“.

Inzwischen präsentier­t sich der Ministerpr­äsident maximal reuig und ist wieder ins erste Extrem zurück gewechselt. Zuletzt forderte er gar unabgestim­mt einen Lockdown für die gesamte Wirtschaft. Der zuständige Minister Wolfgang Tiefensee (SPD) war entsetzt, in einer Schalte von den Unternehme­nsverbände­n musste sich Ramelow harte Kritik gefallen lassen.

Dennoch dürfte die einzige Linke-geführte Koalition Deutschlan­ds bis zur Neuwahl halten, wann immer die auch stattfinde­n mag. Allerdings stellt sich erstmals seit sechs Jahren ernsthaft die Frage, ob das Bündnis selbst im Fall einer Mehrheit fortgeführ­t wird. Falls es denn andere Optionen geben sollte.

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ARCHIV-FOTO: SASCHA FROMM Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow in der Erfurter Staatskanz­lei: Von seinen abrupten Meinungswe­chseln in der Corona-Politik erfuhren viele Politiker der rot-rot-grünen Regierungs­koalition erst aus Pressekonf­erenzen oder Interviews.

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