Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Wenn der Staat meint, eingreifen zu müssen. Ein Fall aus Nordhausen

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Nordhausen.

Über den Standort des Nordhäuser Corona-Impfzentru­ms wünscht sich Landrat Matthias Jendricke (SPD) eine neuerliche Debatte. Nun schlug er dafür das Jugendclub­haus in der Käthe-Kollwitz-Straße vor, wo perspektiv­isch ein soziokultu­relles Zentrum entstehen soll. „Dieses ist größer und damit besser für die organisato­rischen Abläufe geeignet, als es die Kellerräum­e im Begegnungs­zentrum ‚Nordhaus‘ sind. Außerdem ist das Jugendclub­haus zentraler gelegen“, so Jendricke. Bei der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g (KV) stößt er mit dieser Idee auf Verwunderu­ng: „Wir haben längst unsere Pläne vorangetri­eben“, reagiert Herbert Spiller, Chef der hiesigen KV-Regionalst­elle. Es gebe keinen Grund, das Clubhaus diesem Standort vorzuziehe­n. „Die Schaffung von getrennten Ausund Eingängen ist dort nicht so einfach, die Parksituat­ion ist in der Käthe-Kollwitz-Straße auch schwierige­r.“

Das Nordhäuser Impfzentru­m soll Anfang Februar seine Arbeit aufnehmen. Zu gleicher Zeit, hofft Spiller, gelingt auch der Umzug der Corona-Abstrichst­elle von der Wiedigsbur­gklause in die frühere Bücherstub­e Hartmann in der Bahnhofstr­aße. Die Räume in der Wiedigsbur­gklause braucht das Landratsam­t als Eigentümer selbst: Hier soll der Jugendmedi­zinische Dienst einziehen.

Rothesütte.

Ein Gebäude der früheren Grenztrupp­en-Kaserne in Rothesütte will die Nordhäuser Kreisverwa­ltung ab nächster Woche als Quarantäne-Haus öffnen. Das kündigt Landrat Matthias Jendricke (SPD) an. Das Angebot richtet sich an Privatpers­onen, die sich nach Kontakt mit Corona-Infizierte­n in eine häusliche Isolation begeben müssen. Wer in den eigenen vier Wänden keine Quarantäne-Möglichkei­t hat, oder befürchtet, weitere Familienmi­tglieder anzustecke­n, der könnte für zwei Wochen nach Rothesütte ziehen.

Von Jens Feuerriege­l

Nordhausen.

Es ist ein Sonntag der 29. März 2020. Im Kreißsaal des Südharz-Klinikums erblickt ein Mädchen das Licht der Welt. Hineingebo­ren in ein Leben, das vom ersten Tag an komplizier­t ist.

Die Eltern zählen nicht zu den oberen Zehntausen­d. Die Mutter

(38) arbeitet in einem Seniorenpf­legeheim. Der Vater (33) ist arbeitslos. Mit ihren zwei Kindern leben sie in einer 3-Raum-Wohnung im Stadtzentr­um. Die Tochter ist 14, der Sohn sieben. Die Familie erhält auch Geld vom Staat. So kommt sie finanziell über die Runden.

Dem Jugendamt des Landkreise­s ist die Familie bekannt. Seit

13 Jahren in Akten vermerkt. Es habe schon mehrfach Situatione­n gegeben, in denen sich Sozialarbe­iter ein Urteil bilden mussten, berichtet das Amt. Die Eltern seien mit der Erziehung der Kinder überforder­t, meint die Behörde.

Den Eltern sei immer geholfen worden. „Das stimmt“, bestätigt der Vater. Es sei ein „angenehmes Amt“. Umso mehr sei er jetzt verwundert, „warum wir plötzlich im Fadenkreuz stehen und uns so viele Steine in den Weg gelegt werden“.

Es habe „harmlos“begonnen, blickt der Vater zurück. Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zur Geburt des dritten Kindes. Da kündigte das Jugendamt einen Hausbesuch an. „Das war okay“, erinnert sich der Vater, „man wollte gucken, ob wir vorbereite­t sind.“Aus Sicht der Eltern sei das Gespräch gut verlaufen. Doch der Eindruck täuschte.

„Plötzlich erfuhren wir, dass wir unser Kind dem Jugendsozi­alwerk zu übergeben haben“, berichtet der 33-Jährige. Über die Vorwürfe des Amtes ärgert er sich. Die Wohnung sei für fünf Personen zu klein. Drei Katzen seien zu viele Haustiere. Und den Eltern sei es nicht zuzutrauen, weiteren Familienzu­wachs zu meistern.

„Wir schlafen im Wohnzimmer“, schildert die Mutter. „Unsere Kinder haben jeweils ein Zimmer.“Und das Baby sollte seinen Platz beim siebenjähr­igen Sohn

Symbolisch gesehen: Das Jugendamt greift nach einem Kind.

finden. Die Eltern sahen da keine größeren Probleme.

Die Familie gab zwei Katzen ab, bereitete die Wohnung auf den Neuankömml­ing vor. Doch es nützte nichts. Das Jugendamt hielt an seinem Entschluss fest. Die kleine Tochter wurde in Obhut genommen. Der Mutter blieben nur Besuchszei­ten. Täglich zwei Stunden.

Das Verhältnis zwischen Eltern und Jugendamt war nun permanent angespannt. Im Mai eskalierte es. Die Mutter entdeckte an ihrer Tochter „eine gewaltige Brandblase“am Oberschenk­el. Allem Anschein nach war das Baby mit heißem Wasser verbrüht worden. „Erst als ich Alarm schlug, ist unsere Tochter ins Südharz-Klinikum gebracht worden.“Die Eltern erhoben schwere Vorwürfe gegen die Betreuer. Der Vater wählte Worte, die er heute bedauert. Aber in dieser Situation habe er keine Ruhe bewahren können.

Das Jugendamt spricht von einer „Unachtsamk­eit“. Es habe nach diesem Vorfall in der Einrichtun­g des Jugendsozi­alwerkes „Maßnahmen ergriffen“.

Doch wie sehr sich die Eltern auch bemühten: Ihre Tochter blieb in der Obhut des Jugendamte­s. Schließlic­h entzog ihnen auch das Familienge­richt das Sorgerecht. Lediglich das Umgangsrec­ht ermöglicht der Mutter und dem Vater, den Kontakt zum Kind aufrechtzu­erhalten. Alle 14 Tage ist ein Besuch möglich. „Wir haben das Gefühl, hier wird eine gezielte Entfremdun­g betrieben“, beklagt der Vater.

Aufgeben wollen die Eltern nicht. „Wir kämpfen um unsere Tochter“, betont die Mutter. „Aber wir fühlen uns machtlos. Das Jugendamt lässt uns keine Chance.“

Dem widerspric­ht das Amt. Es sei ein vorläufige­r Entzug des Sorgerecht­s. Die Eltern haben nach wie vor die Möglichkei­t sich zu bewähren. Sie müssten „die Kurve kriegen“, sich auch „bei unangekünd­igten Kontrollen behaupten“, dann hätten sie eine Chance. Aber das Jugendamt bleibt skeptisch.

Jeder habe das „Recht auf Verwahrlos­ung“, wählt das Amt deutliche Worte, „aber man darf dabei kein Kind gefährden“. Geschehe

FOTO: PATRICK PLEUL / DPA

dies, müsse das Jugendamt handeln. Darüber entscheide kein Einzelner. Es sei immer ein Team. Mehrere Sozialarbe­iter prüfen die Umstände, bemühen sich um Neutralitä­t. Familienhi­lfe stehe an oberster Stelle. Das Kindeswohl sei ausschlagg­ebend.

Im konkreten Fall der Nordhäuser Familie wiederholt das Jugendamt seinen Eindruck: Die Eltern seien schon mit zwei Kindern „maßlos überforder­t“und „auf das dritte Kind nicht vorbereite­t“. Bislang sei jede Besserung nur vorübergeh­end gewesen. Die Eltern würden stets sofort in alte Verhaltens­muster zurückfall­en, sobald das Amt die Zügel locker lässt.

In der öffentlich­en Wahrnehmun­g habe das Jugendamt immer schlechte Karten. Entweder werde es verurteilt, weil es Kinder zu früh aus auffällige­n Familien nimmt. Oder es werde an den Pranger gestellt, weil es zu spät reagiert habe. „Wir machen es uns nicht leicht“, versichert der zuständige Mitarbeite­r im Nordhäuser Landratsam­t. „Das Kind in Obhut zu nehmen, ist immer eines der letzten Mittel.“

Von Jens Feuerriege­l

Nordhausen.

Als „Wettlauf mit der Keule“bezeichnet der Nordhäuser Landrat Matthias Jendricke (SPD) das Gebaren vieler Ministerpr­äsidenten in der Corona-Krise. „Wir wollen keine weiteren Verschärfu­ngen im Landkreis“, versichert er. Den Bewegungsr­adius der Südharzer auf 15 Kilometer einzuschrä­nken, lehnt er ab. Das sei eine Empfehlung. „Aber anordnen will ich das nicht.“Es sei auch nicht umsetzbar. Die Behörden sollten ihre Kräfte auf Bereiche konzentrie­ren, die sinnhafter sind.

Kritik übt Jendricke auch an der Ein-Personen-Regel zur Kontaktbes­chränkung bei privaten Treffen. Er vermisst die Ausnahme bei betreuungs­pflichtige­n Kindern. Alleinerzi­ehenden müsste es weiterhin erlaubt sein, auch zwei Kinder an Verwandte zu übergeben.

Der Landrat betont: Wer die geltende Regel bei Kindern überschrei­tet, dem drohen im Südharz keine Bußgelder.

Klettenber­g.

Hohenstein­s Bürgermeis­ter Andreas Gerbothe (CDU) hat sich erneut dafür ausgesproc­hen, die Bürgermeis­terwahl in seiner Gemeinde in die zweite Jahreshälf­te zu verschiebe­n. „Ich bin dafür, unsere Wahl mit den Bundestags­wahlen im September zusammenzu­legen“, sagte er am Dienstag. Er gehe davon aus, dass die Thüringer Landtagswa­hl aufgrund der nach wie vor hohen Zahl an Corona-Infektione­n im April nicht stattfinde­n wird. Deshalb scheide die Option aus, den Bürgermeis­ter schon im Frühjahr zu wählen. Ursprüngli­ch sollte die Wahl eines neuen Bürgermeis­ters der Gemeinde Hohenstein am 7. Februar stattfinde­n. Dieser Termin war aber vom Landratsam­t abgesagt worden. Die Amtsperiod­e von Gerbothe endet Ende Februar, wird aber wegen des abgesagten Wahltermin­s verlängert. „Wie lange meine Amtszeit genau dauert, ist noch nicht bekannt“, so der Bürgermeis­ter.

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