Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Italien macht der Mafia den Prozess

300 Angeklagte, 900 Zeugen, Spezialbun­ker: In Kalabrien hat das größte Gerichtsve­rfahren seit Jahrzehnte­n begonnen

- Von Bettina Gabbe

Heftiger Wind fegt schwarze Regenwolke­n über den Himmel, als sich Hunderte Angeklagte, Richter und Staatsanwä­lte zum größten Anti-Mafia-Prozess seit Jahrzehnte­n versammeln. Angeklagt sind mehr als 300 mutmaßlich­e Mitglieder und Helfer der kalabrisch­en ’Ndrangheta. Der Ort des Prozesses: ein für fünf Millionen Euro eigens hergericht­eter Bunker in der süditalienis­chen Stadt Lamezia Terme. Eventuelle Befreiungs­versuche will die Justiz unbedingt verhindern. Der MegaProzes­s gegen die Mafia soll die Macht des Staates unter Beweis stellen.

Ein bis zwei Jahre dürfte das Verfahren dauern. Und das, obwohl außer am Wochenende täglich Verhandlun­gen angesetzt sind – es gelte, den Wettlauf gegen Verjährung­sfristen zu gewinnen, sagt Chefankläg­er Nicola Gratteri (62). Der Oberstaats­anwalt der kalabrisch­en Hauptstadt Catanzaro widmet sich seit seiner Kindheit dem Kampf gegen die Clans. Der Jurist gilt in Italien als Held, er ist verantwort­lich für spektakulä­re Aktionen wie die Massenfest­nahme von 334 Verdächtig­en im Dezember 2019, denen nun der Prozess gemacht wird. Auch in Deutschlan­d, der

Schweiz und Bulgarien wurde ermittelt.

Den Beschuldig­ten werden Mafia-Zugehörigk­eit, Mord, illegaler Waffenbesi­tz, Drogenhand­el, Erpressung, Geldwucher und vieles mehr vorgeworfe­n. Vielen drohen bei einer Verurteilu­ng hohe Haftstrafe­n. Erwartet werden etwa 900 Zeugen, darunter ehemalige MafiaLeute, die bereit sind, das sogenannte Gesetz des Schweigens, die Omertà, zu brechen. Experten hoffen, dass das Verfahren ans Licht bringen wird, wie eng die Beziehunge­n zwischen Teilen von Politik und Wirtschaft mit der Mafia sein können. Die ’Ndrangheta sei „ein kriminelle­r Konzern“, sagt Gratteri.

’Ndrangheta ist verantwort­lich für Mafia-Morde von Duisburg

Spätestens seit den Morden von Duisburg, einer mafiainter­nen Auseinande­rsetzung zweier Clans, bei der 2007 sechs Menschen getötet wurden, ist die ’Ndrangheta auch in Deutschlan­d ein Begriff. Gratteri, Italiens bekanntest­er Mafia-Jäger, strebt mit dem Prozess nicht nur einzelne Urteile an – er will das ganze kriminelle System bezwingen. Die ’Ndrangheta sei in Deutschlan­d „sehr präsent, vor allem im Dienstleis­tungsberei­ch“, so Gratteri in einem Interview. Die ’Ndrangheta gilt als reichste, brutalste und mächtigste Mafia-Organisati­on in Italien. Eine seit drei Jahren verschwund­ene Unternehme­rin etwa soll von einem Mitglied des berüchtigten Mancuso-Clans ermordet worden sein, weil sie ihre Ländereien nicht verkaufen wollte. Komplizen hätten ihre Leiche anschließe­nd Schweinen zum Fraß vorgeworfe­n – die zuvor tagelang hungerten. Der mutmaßlich­e Täter wechselte hinterher die Seite und arbeitet mittlerwei­le als Kronzeuge mit der Staatsanwa­ltschaft zusammen.

Der Prozess von Lamezia Terme ist der größte seit dem sogenannte­n Maxi-Prozess gegen die sizilianis­che Cosa Nostra in Palermo in den 80er-Jahren. Damals waren mehr als 400 mutmaßlich­e Mitglieder angeklagt, ein Großteil wurde verurteilt. Auch als Rache brachte die

Mafia später die Staatsanwä­lte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino um. Die Ankläger und die knapp 60 Kronzeugen begeben sich also in höchste Gefahr.

Nicola Gratteri gibt sich dennoch gelassen. Seit 30 Jahren steht er unter Polizeisch­utz. Bereits in seiner Kindheit lernte er die Organisati­on kennen, die mittlerwei­le den Kokainhand­el in Europa dominiert. „Als Junge ging ich mit den Söhnen der Mafia-Bosse zur Schule“, sagt er. „Meine Spielkamer­aden sind später ’Ndrangheta -Mitglieder geworden, deshalb kenne ich die kriminelle Philosophi­e der ’Ndrangheta.“Er will sich nicht einschüchtern lassen.

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FOTO: GIANLUCA CHININEA / AFP Ein für fünf Millionen Euro eigens hergericht­eter Bunker in der süditalien­ischen Stadt Lamezia Terme dient als Gerichtssa­al.
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FOTO: ALBERTO PIZZOLI / AFP Chefankläg­er Gratteri will mit dem Prozess das kriminelle System bezwingen.

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