Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Experten warnen vor einer Zunahme von Depressionen und Suiziden infolge des Lockdowns
Berlin.
Vor der Pandemie habe sie ihre Angststörung im Griff gehabt, schreibt eine Nutzerin auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Doch nun traue sie sich nicht einmal mehr, kurz Lebensmittel kaufen zu gehen. Erzählungen wie diese gibt es derzeit viele in den sozialen Netzwerken. Sie sind nur die Spitze des Eisbergs.
Einer repräsentativen Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe zufolge sind Menschen mit Depressionen deutlich stärker von den Corona-Maßnahmen betroffen als andere. Der Verlust der festen Alltagsgewohnheiten macht ihnen fast doppelt so häufig zu schaffen wie der Allgemeinbevölkerung (75 % zu 39 %), der Lockdown wird als belastender empfunden (74 % zu 59 %). Befragt wurden 5178 Personen im Juni und Juli 2020, also nach der ersten Welle.
Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung, Psychiater und Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, sieht ein großes Problem in der verschlechterten medizinischen Versorgung der Patienten: „Oft fallen jetzt Menschen hinten runter, die ohnehin keine große Lobby haben.“In der Umfrage hatte jeder zweite an Depression Erkrankte, also hochgerechnet mehr als zwei Millionen Menschen, angegeben, massive Einschränkungen in der Behandlung erlebt zu haben.
Doch nicht nur bereits Erkrankte sind betroffen. Laut einer Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) unter ihren Mitgliedern sind die Terminanfragen in den Praxen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum im Schnitt um 40 Prozent gestiegen. Gerade Frauumso
Immer allein, immer zu Hause: Die Pandemie legt sich auf die Seele vieler Menschen.
en, die im Vergleich zu Männern doppelt so häufig an Depressionen und Angststörungen erkranken, erleben eine Verschärfung. „Für Patienten und Patientinnen, die zum Beispiel krankhafte Ängste vor Gedränge im Kaufhaus oder der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel haben, ist es wichtig, sich möglichst täglich in diese Situationen zu begeben, damit sich die Angst nicht ausdehnt“, sagt Hegerl. „Weil das momentan nicht möglich ist, wird es viele negative Verläufe geben.“Eine andere Problematik sieht er eher bei Männern: „Bei diesen sind Alkoholund Drogenprobleme häufiger. Zu Hause kann man im Gegensatz zum Büro schon morgens eine Fahne haben, ohne aufzufallen. Für diese Menschen birgt der erneute Lockdown das Risiko des Absturzes in die Sucht.“
Hegerl fordert eine ähnlich systematische Erfassung der Folgeschäden der Maßnahmen wie bei den eigentlichen Corona-Zahlen: „Nur dann können wir das an Leid und Tod, was wir verhindern, mit dem ins Verhältnis setzen, was wir verursachen.“Notwendig wäre nach Ansicht Hegerls auch ein Expertengremium mit Ärztinnen und Ärzten aus verschiedenen Fachbereichen sowie mit Psychologen, Soziologen, Epidemiologen und Gesundheitspolitikern, die eine Nutzen-RisikoAbschätzung vornehmen.
Depressiv Erkrankten rät Hegerl, sich feste Wochenpläne mit viel Sport zu erstellen – und auf einen geordneten Schlaf-Wach-Rhythmus zu achten. Angehörige sollten aktiv werden, wenn ein Familienmitglied sich zurückziehe.
Paul Plener, Leiter der Kinderund Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien, beobachtet in seiner Klinik eine Zunahme von Fällen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Essstörungen und schweren Depressionen, auch mit Suizidversuchen. Teilweise habe der Andrang zu „einer gewissen Triagierung“geführt, weil „nicht alle stationär aufgenommen werden konnten“.
Studie aus Japan zeigt erhöhte Suizidrate
Besonders hart treffe es die 15- bis 25-Jährigen, „weil soziale Kontakte mit Gleichaltrigen in dieser Phase entwicklungspsychologisch besonders wichtig sind“, sagt Plener. Er hält Schulöffnungen – unter streng kontrollierten Hygienemaßnahmen wie regelmäßigen Schnelltests, Wechselunterricht, Maskenpflicht und Lüftungskonzept – deshalb für dringend geboten.
„Je länger die Pandemie dauert,
weniger können wir uns allein an den Infektionszahlen orientieren, sondern müssen auch die langfristigen Folgen betrachten“, sagt Plener. „Auch psychische Erkrankungen und durch die Pandemie verursachte geringere Bildungschancen sind lebensverkürzend.“Eltern rät er, bei Kindern und Jugendlichen eine feste Tagesstruktur beizubehalten. „Wir müssen auf die Suizidraten aufpassen“, warnt auch die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, Ute Lewitzka. „Für den Suizid gibt es eine Reihe von Risikofaktoren – Isolation, psychische Störungen wie Suchterkrankungen, finanzielle Ängste. Diese treten im CoronaLockdown nicht nur häufiger auf, sondern können auch weniger gut kompensiert werden – zum Beispiel, weil Sozialkontakte wegfallen.“Sie fürchtet, ein Anstieg der Insolvenzzahlen könne einer Erhöhung der Suizidraten führen.
Noch liegen für Deutschland keine aktuellen Zahlen zur Suizidrate vor. Eine Studie aus Japan kommt zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Selbstmorde sich in der zweiten Welle der Pandemie spürbar erhöht hat, im ganzen Jahr 2020 um fast vier Prozent. Dies korreliert mit einem Rückgang an staatlichen Hilfsleistungen und einer höheren Arbeitslosigkeit. Besonders deutlich war der Anstieg bei Frauen und Minderjährigen.