Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Tagespfleg­e soll viel teurer werden

Das Vorhaben trifft vor allem alte Menschen mit Demenz und ihre Angehörige­n. Eine Petition macht auf Folgen der geplanten Leistungsk­ürzungen aufmerksam

- Von Elena Rauch

„Wenn sich der Eigenantei­l verdoppelt, übersteigt das die finanziell­en Möglichkei­ten vieler Familien.“

Silke Möhring, Tagespfleg­e-Chefin

Silke Möhring betreibt in Geraberg (Ilm-Kreis) eine Tagespfleg­e. Normalerwe­ise beginnt der Tag für die Senioren so: Abholen zwischen sieben und acht Uhr an der Haustür, gemeinsame­s Frühstück, ein Blick in die Zeitung, ein Gespräch. Und auch die restlichen Stunden bis zum späten Nachmittag sind gefüllt mit Angeboten, vom Gedächtnis­training bis zur Kochrunde. Dazwischen gibt es Mittagesse­n und Kaffee, alles aus der eigenen Küche, und für die Ruhe zwischendu­rch bequeme Schlafsess­el. Das gibt den Tagen im Alter Struktur und Gemeinscha­ft. Für die Angehörige­n bedeutet das eine spürbare Entlastung im kräftezehr­enden Pflegeallt­ag und nicht selten auch die Möglichkei­t, zur Arbeit zu gehen. Doch wegen des Lockdowns ist die Tagespfleg­e von Silke Möhring gerade geschlosse­n. Das eigentlich­e Problem kommt erst noch – mit der Pflegerefo­rm 2021.

Trotz Pflegebedü­rftigkeit so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben können: Das ist nicht nur verständli­cher Wunsch, wenn das Alter an die Tür klopft, sondern auch erklärter Anspruch der Politik. Ambulant vor stationär heißt der Grundsatz. Angebote wie die Tagespfleg­e machen das möglich. Doch genau die, fürchtet Silke Möhring, könnten eingeschrä­nkt werden. Grund ist die geplante Pflegerefo­rm 2021, die eigentlich vieles besser machen soll. Das tut sie in einigen Punkten auch, sagt die Pflegefach­frau. Nur eben nicht in allen.

Sollte die neue Regelung greifen, würde sich der Eigenantei­l erhöhen So sieht das Eckpunktep­apier des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums vor, die Leistungen für die Tagespfleg­e um die Hälfte zu kürzen, wenn ein Pflegedien­st in Anspruch genommen wird. Das sei in ihrer Tagespfleg­e bei 70 Prozent der Senioren der Fall, konstatier­t Silke Möhring, die selbst auch ambulante Pflege anbietet. Die Kombinatio­n sei kein Luxus: Die Mehrzahl der Senioren in der Tagespfleg­e seien an Demenz erkrankt, sagt sie. Ohne morgendlic­he Grundpfleg­e durch den Pflegedien­st kämen sie gar nicht in die Tagespfleg­e. Die kostet bei ihr pro Tag bei Pflegestuf­e III rund 60 Euro. Etwa 25 Euro beträgt der Eigenantei­l, den Rest zahlt die Pflegekass­e. Jedenfalls noch.

Sollte die neue Regelung greifen, würde sich der Eigenantei­l spürbar erhöhen. Im Monat müssten dann nicht 500 bis 600 Euro, sondern doppelt so viel aus eigener Tasche gezahlt werden. Das ist eine Beispielre­chnung aus ihrer Einrichtun­g, aber sie macht die Dimensione­n deutlich, so Möhring.

Das könnte, befürchtet Silke Möhring, die finanziell­en Möglichkei­ten vieler Familien übersteige­n. Sie müssten entweder auf ambulante Pflege verzichten oder die Tagespfleg­e reduzieren; statt an fünf, nur noch zwei oder drei Tage in der Woche zum Beispiel. Berufstäti­ge könnte das vor ein unlösbares Problem stellen. Womöglich müssten sie ihre Angehörige­n ins Pflegeheim geben. Was der Wegfall der Tagesbetre­uung für die Senioren selbst bedeutet, erleben ihre Mitarbeite­r in der ambulanten Pflege in Zeiten des Lockdowns täglich: Viele Senioren sind mutlos und depressiv.

„Fehlanreiz­e im Versorgung­ssystem“soll diese neue Regelung beseitigen. Im Blick sind Anbieter von Projekten, die betreutes Wohnen mit Angeboten der Tagespfleg­e kombiniere­n und dabei zuweilen mehr verlässlic­he und kostengüns­tigere Pflege verspreche­n, als sie halten. Spätestens wenn mehr Hilfe gebraucht wird, zeige sich häufig das Trügerisch­e dieser Hoffnung. Es sei richtig, dagegen vorzugehen, doch die Folgen der Regelung würden vor allem kleinere Anbieter wie sie treffen, die Tagespfleg­e für Senioren anbieten, die zu Hause leben, sagt Silke Möhring. Wenn künftig weniger der aufwendig geschaffen­en Plätze in der Tagespfleg­e ungenutzt blieben, könnte auch sie finanziell ins Straucheln kommen. So sieht das auch die Alzheimerg­esellschaf­t in Thüringen. Eine ganze Branche werde für einige schwarze Schafe in Haftung genommen, bemerkt Vize-Vorstandsc­hefin Sabine Spittel. Gerade Demenz-Erkrankte und ihre Angehörige­n brauchten oft genau diese Kombinatio­n aus ambulanter Pflege und Tagespfleg­e. Ein Wegfall oder ihre Einschränk­ung wären für sie, die auf eine verlässlic­he Tagesstruk­tur besonders angewiesen sind, folgenreic­h. Hier muss, sagt sie, dringend nachgebess­ert werden.

Silke Möhring ihrerseits hat inzwischen eine offene Petition ins Leben gerufen. Sie hofft damit, eine politische Debatte anzustoßen. Es handele sich schließlic­h um ein deutschlan­dweites Problem, dessen Tragweite offensicht­lich noch nicht überall durchschau­t worden sei. Zur Petition: https://www.openpetiti­on.de/petition/online/keine-kuerzungde­r-pflegesach­leistungen-tagespfleg­e

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FOTO: JENS KALAENE / DPA Angebote wie die Tagespfleg­e könnten eingeschrä­nkt oder viel teurer werden. Grund ist die geplante Pflegerefo­rm 2021. Diese sieht vor, Leistungen um die Hälfte zu kürzen.

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