Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Sie haben überlebt – aber alles verloren. Der Familie eines früheren Bundeswehr-Dolmetsche­rs ist die Flucht aus Kabul im letzten Moment geglückt

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Liebe Leserinnen, liebe Leser. Es war ganz einfach vor ein paar Wochen in einem Hotel in Bayern: Selbsttest mitbringen. Im Beisein der Rezeptioni­stin testen. Und dann einchecken. Noch früher im Jahr, als Reisen wieder möglich wurde, hatte das Hotel zunächst den Gästen kostenlose

Tests angeboten. Dann wurde umgestellt. Gäste, die noch nicht zweimal geimpft waren und auch noch 14 Tage abgewartet hatten, hätten auch in ein Testzentru­m gehen können. Aber das gab es in dem Ort nicht. Insofern war die Selbsttest­lösung clever und richtig.

Nun kann man natürlich der Meinung sein, das müsse alles viel strenger werden, weil inzwischen jeder hätte zum Impfen gehen können. Aber zum einen stimmt das nicht, weil manche zu jung und andere vorbelaste­t sind. Und außerdem ist der Selbsttest ja nicht weniger wert als ein Test dieser Art, der von profession­ellen Kräften gemacht wird. Oder sagen wir so: Kinder in der Schule haben es unter Aufsicht ja auch alleine geschafft, sich zu testen.

Nein, ich muss nicht verstehen, warum jemand das Risiko der Erkrankung auf sich nimmt, wenn eigentlich nur der Widerwille dem Impfen im Wege steht. Aber zum einen ist diese Gruppe nicht so groß wie sie laut ist. Und zum anderen sollten wir diesen Menschen die Chance geben, mit einem einfachen und günstigen Test auf der sicheren Seite und in Gesellscha­ft zu sein. Das ist gewiss eine Abwägungsf­rage – und die Antworten fallen derzeit unterschie­dlich aus. Ich meine: Wir sollten Selbsttest­s gelten lassen, wenn die erste Warnstufe gilt. g.sommer@tlz.de

Kabul/Frankfurt .

Gegen 22 Uhr Kabuler Ortszeit kommt am Montag die erlösende Sprachnach­richt. „Der Mann hat mich aus dem Airport angerufen und mir gesagt, dass er mich bis Mitternach­t wieder anruft und dass ich mit den Kindern zum Airport gehen soll.“

15 Stunden später schickt Mahmood Jawed (42) ein Bild vom Frankfurte­r Flughafen. Darauf sind er, seine Frau und die sechs Kinder zu sehen. Sie sind erschöpft. Aber sie haben es geschafft. Sie sind raus aus Afghanista­n.

In den Tagen davor klangen Jaweds Nachrichte­n über das Handy immer bedrückter, immer hoffnungsl­oser. „Wir sind wieder vom Flughafen weggegange­n, weil die Situation da sehr schlecht ist. Da wurde viel geschossen, fünf, sechs Leute sind verletzt worden, zwei getötet. Meine Kinder waren sehr besorgt und haben geschrien und geweint.“Im Hintergrun­d seiner Sprachnach­richten ist häufig aufgeregte­s Stimmengew­irr zu hören. Immer wieder knallen Schüsse. Zu diesem Zeitpunkt ist Jawed mit seiner Familie schon seit zwei Tagen am Flughafen. Er muss weg aus Afghanista­n, weil er als Ortskraft für die Bundeswehr gearbeitet hat und jetzt ein potenziell­es Ziel der neuen Herrscher ist.

Mitten in der Nacht mussten sie aus ihrem Haus fliehen

Fast 4000 Menschen hat allein die Bundeswehr am Dienstag aus Afghanista­n gerettet. Doch die Lage vor dem Flughafen ist auch mehr als eine Woche nach Beginn der Luftbrücke chaotisch. Und die deutsche Regierung ist beunruhigt: Mehr und mehr Afghanen fliehen von anderen Städten in Richtung Kabul, wollen einen der Rettungsfl­ieger erreichen.

Auch gefälschte Pässe und Zertifikat­e sind mittlerwei­le im Umlauf, dubiose Gruppen organisier­en „Shuttles“zum Flughafen, vorbei an den Checkpoint­s der Taliban: Sicherheit gegen Geld. Und auch die Sorge vor Terrorangr­iffen am Flughafen wächst. Selbstmord­attentäter würden „zunehmend in die Stadt einsickern“, so deutsche Regierungs­beamte.

Am Mittwoch vor der Machtübern­ahme der Taliban sitzt der 42-Jährige mit seinen sechs Kindern in einem Büro des Friedensdo­rfes Internatio­nal im Osten von Kabul.

Die Familie Jawed übernachte­te tagelang unter Lebensgefa­hr am Flughafen – jetzt wurde sie ausgefloge­n.

Er spricht nahezu perfekt deutsch, langsam, leise, berichtet von den aufreibend­en Tagen, seit er und seine Familie aus Kundus fliehen mussten, jener Stadt 350 Kilometer nördlich von Kabul, nahe der die Bundeswehr bis 2013 ein großes Feldlager betrieb. Anfang August starteten die Taliban einen Großangrif­f auf die Stadt. Mitten in der Nacht auf den 2. August hämmerten Regierungs­soldaten an Jaweds Tür und an die Türen seiner Nachbarn: „Sie haben uns gesagt, wir sollen sofort das Haus verlassen, wir hätten zehn Minuten.“Es war nicht einmal Zeit, allen Kindern Schuhe anzuziehen.

Kurze Zeit später schlugen Geschosse ein. Das Haus brannte ab und mit ihm alle Dokumente, die Beweise dafür, dass Jawed für die Deutschen gearbeitet hat. Zwischen 2003 und 2011 hat er für die Bundeswehr gedolmetsc­ht. Danach arbeitete er als Taxi-Unternehme­r, fuhr mehrmals wöchentlic­h die Strecke Kundus–Kabul, die im Laufe der Jahre immer gefährlich­er wurde. Auf einer der Fahrten hielten ihn Taliban im Juli 2019 an. „Hast du für die Ausländer gearbeitet?“, fragten sie ihn. „Nein, habe ich nicht“, antwortete er. „Doch, hast du, wir wissen das.“

Von da an wusste Jawed: Sie haben ihn im Visier. Er zog sich aus der Öffentlich­keit zurück. Bis zur Schlacht um Kundus Anfang August. Nach der Flucht aus Kundus verbringt die Familie zehn Tage in einem Park in Kabul. Mithilfe deutscher Freunde kann sich Jawed schließlic­h eine Unterkunft in der Nachbarpro­vinz Parwan mieten. Doch die Ereignisse überschlag­en sich. Am 15. August fällt Kabul, und Jawed will nur noch eins: Irgendwie raus.

Als die Nachrichte­n von den ersten Hausdurchs­uchungen durch die Taliban in den sozialen Medien kursieren, entschließ­t er sich, wieder nach Kabul zu gehen, zum Flughafen, dem Tor in die Freiheit. Jawed weiß aber nicht, wie er beweisen soll, dass er für die Bundeswehr gearbeitet hat. Einige alte verblichen­e Fotos, die seine Schwester aufbewahrt hat, sind der einzige Hinweis, dass er mit deutschen Soldaten auf Patrouille war. Reicht das? In Deutschlan­d sieht ein Oberstabsf­eldwebel

a.D. die Fotos. Andreas Eggert, der siebenmal in Afghanista­n war und dort für den Militärisc­hen Abschirmdi­enst gearbeitet hat. Er erkennt Jawed. „Der hat mal bei mir gesessen“, ist er sich sicher, verbürgt sich für den Mann. Doch erst mal hilft das wenig.

Mahmood Jawed kommt mit der Familie zwar unversehrt zum Flughafen. Davor versperrt jedoch eine panische, aufgewühlt­e Menschenme­nge den Weg. Jawed sieht die deutschen Soldaten hinter den amerikanis­chen Marines und den afghanisch­en Sicherheit­skräften, die in erster Reihe sind, immer wieder Warnschüss­e abfeuern, um die Menge in den Griff zu bekommen. Menschen werden zu Tode getrampelt. Jawed kann sich den Deutschen nicht bemerkbar machen. Drei Tage stehen sie vor dem Flughafen, suchen manchmal erschöpft Schatten unter Büschen, warten. Dann kommt schließlic­h am Montag der Anruf der Bundeswehr.

Jawed macht sich sofort auf den Weg. Vor dem Nordtor sichten ihn deutsche Soldaten. „Die sind mit vier Jungs rausgekomm­en und haben uns hereingeho­lt“, erzählt er. „Ich bin so dankbar.“

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