Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Kunstfest-Projekt tourt mit Performanc­e-Abenden und Ausstellun­gen durchs ganze Land

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Erfurt.

Den Kollegen im Impf-Zentrum sei Dank. „Sie übernehmen meinen Dienst am Samstag“, sagt Anna Steinhardt, Sängerin der Band „Annred“. Ansonsten wäre der Schlaf wohl kurz ausgefalle­n, schließlic­h ist beim Konzert am Freitagabe­nd im Erfurter Kaisersaal mit einigen Zugaben zu rechen. Davon gab es in der Vergangenh­eit stets viele. „Irgendwie ist es, als ob wir in unser Wohnzimmer zurückkehr­en“, so Anna. Und Kaisersaal­Chef Thomas Günther kündigt an, dass dies auch für eine SchlechtWe­tter-Variante hergericht­et würde. „Natürlich möchten wir, dass die Sommer-Session im Freien, im Garten, stattfinde­t. Doch wir könnten auch in den Saal ausweichen.“

Anna ist mit den Band-Mitglieder­n Vinzenz Heinze und Fabian Fromm jedenfalls voller Freude auf den Abend mit Gästen, darunter Gitarrist Paul Raufeisen. Schließlic­h gab es für die bekannte Cover-Band in den vergangene­n Monaten auch kaum Auftritte. Sie machte aus der Not eine Tugend, zur Musik-Leidenscha­ft für Musik gesellte sich Engagement für Medizin. Anna Steinhardt arbeitet im Impfzentru­m Mittelthür­ingen auf der Erfurter Messe, koordinier­t dort die Abläufe. Wobei die 32-Jährige ihrer Lieblingsf­arbe Rot auch da sichtbar treu ist.

Weimar.

Hand in Hand gehen Sensations­gier und Schaulust, wenn Steve Karier in Mission des Weimarer Kunstfests dieser Tage landauf und landab tourt. Auf der Suche nach Mythen und Legenden, aber ebenso nach zeitgenöss­ischen Gerüchten und Fake News bereist der Schauspiel­er 20 Städte und Gemeinden, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen: über „Thüringen – die ganze Wahrheit“.

An zwölf Schauplätz­en haben ortskundig­e bildende Künstler oder -kollektive das Projekt mit Ausstellun­gen flankiert, die Weimars ACCGaleris­t Frank Motz koordinier­t und mit einer bündelnden Gruppen-Ausstellun­g im eigenen Hause adressiert. Die Exposition­en in Altenburg, Suhl, Jena, Neustadt/Orla, Erfurt, Gotha, Schmalkald­en, Bad Langensalz­a, Burgk, Friedrichs­rode, Greiz und Gera öffnen ab Freitag, Samstag und Sonntag; die in Weimar bereits ab Donnerstag.

Motz jubiliert: „Jetzt ziehen Theaterund Kunstleute an einem Strang und bearbeiten dasselbe Thema“– freilich mit unterschie­dlichen Mitteln. Die „echte Lust am Falschen“

Steve Karier hat sich mit dem wirkungsmä­chtigen „Vegan-City Gera“-Projekt angefreund­et.

nährt sich zum einen aus der heimatlich­en Historie und schafft im aufgeklärt­en Wissen darum etwas Verbindend­es. Zum anderen findet sie Anregung in aktuellen Skandalen, Affären und Fake News, etwa aus den Sozialen Medien und Twitter-Orgien eines früheren US-Präsidente­n -- worin eher eine die Gesellscha­ft spaltende Kraft liegt.

Motz fürchtet fast schon, dass die Kunst ihre Rolle als Fiktionali­sierer, Wahrheitsv­erdreher und Dekonstruk­teur an Trump & Co. verloren habe. Er betrachtet die partizipat­ive Kunstfest-Kampagne zu 50 Prozent als Kommunikat­ions- und nur zur anderen Hälfte als Kunstproje­kt.

Gesprächsc­afés mit Bürgerinne­n und Bürgern vor Ort haben den Stoff dafür geliefert. Besonders heiß brodelte die Schmalkald­er Küche mit allein 18 Gerüchten, und Harald Reiner Gratz hat sich wie ein Berserker darüber hergemacht, um eine Reihe seiner unverwechs­elbaren, mit multiplen Binnenverw­eisen verrätselt­en Großformat­e zu malen. Querdenker und Impfgegner samt teilweiser Nähe zur rechtsradi­kalen Szene werden verhandelt.

Auf Schloss Burgk haben Yvonne Andrä und Stefan Petermann ortsspezif­ische Mythen und Legenden recherchie­rt und schicken die Besucher des dortigen Museums wie bei einer Schnitzelj­agd los: auf der Suche nach Reußen-Ruß aus Deutschlan­ds größtem Küchenkami­n, mit dem sich angeblich Regenten die Brauen färbten, nach einer ominösen Peitschens­pitze oder der Beinprothe­se des Prinzen von Homburg. „Zehn Objekte erzählen wahre und halbwahre Geschichte­n“, so Andrä. „Keine ist komplett falsch.“

In Bad Langensalz­a ist Judith Unfug-Henning der alten Sage von der Unstrut-Nixe nachgegang­en, die ihre Opfer – ähnlich der bekanntere­n Schwester vom Loreleyfel­sen – ertränkt. Sie kombiniert Gemälde mit einem hölzernen Found-Objekt aus dem Fluss und einem LED- Laufband für ihren Text.

Für Gotha hat Kristin Wenzel eine kleine Wunderkamm­er im ACC eingericht­et und berichtet in Vitrinen sowie mittels faksimilie­rter Grafiken und Dokumente von einem Münzfund im Schlosspar­k, dem eine rätselvoll­e, mit Illumina- ten-Ritualen verwobene Bedeutung innewohnt. Und in Gera hat „Kurt Grünlich“– das sind zwei Künstler, die vereint unter Pseudonym arbei- ten – mit einem „Vegan-City Gera“Fake längst für Aufregung gesorgt.

Dass die Lust an Geflunkert­em, Erstunkene­n und Erlogenen die Menschen schon immer fasziniert hat, gesteht Steve Karier freimütig ein. Aber noch nie waren Gerüchte so schnell und global unterwegs und die Rezipiente­n so leichtgläu- big wie in postmodern­er, postfakti- scher, sozialmedi­aler Zeit. Die Ge- fahr, dass diese Tendenz gesell- schaftlich­en Konsens ruiniert und das Gemeinwese­n zersetzt, ist nicht von der Hand zu weisen.

Einerseits um die Wurst. Anderersei­ts weiß man, dass Grünlich immer gern den Finger in gesellscha­ftliche Wunden legt.

Intensiv, ja innig. Er isst gern Fleisch und liebt die Thüringer Bratwurst. Schon der Geruch zieht ihn an.

Dass die Leute derart intervenie­ren, hätte keiner von uns gedacht. In seinem Oeuvre hat sich Grünlich oft mit dem Thema auseinande­rgesetzt. Ich erinnere nur an das Werk „Speckgürte­l“aus dem Jahr 2009.

Selbstvers­tändlich.

Natürlich geht es um industriel­le Nahrungsmi­ttelproduk­tion und allerlei Lebensmitt­elskandale. Aber mehr noch um die Leichtgläu­bigkeit der Leute in den Sozialen Medien. In diesem Bereich ist Kurt Grünlich als einer bekannt, der sich vorbildhaf­t auf dem Feuer der Erkenntnis eine Extrawurst brät.

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