Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

SPD erstmals seit Jahren vor Union

- Von Oliver Stöwing

Gut einen Monat vor der Bundestags­wahl landen die Sozialdemo­kraten erstmals seit fast 15 Jahren auf einem höheren Wert als die Union. Im am Dienstag veröffentl­ichten Trendbarom­eter des Forsa-Instituts für RTL und n-tv kommen die Sozialdemo­kraten auf 23 Prozent, die Union erreicht 22 Prozent. Die SPD gewinnt im Vergleich zur Vorwoche zwei Prozentpun­kte hinzu, die Unionspart­eien büßen einen Punkt ein.

Am Sonntag, dem 1. August, wache ich in meinem Schweiß auf. Die Nacht war ungefähr so erholsam wie der Marathon des Sables durch die Sahara. In meinem Kopf hämmert es, als hätte eine Herde Schweine meinen Schädel aufgesägt und würde nun darin herumtramp­eln. Mein erster Gedanke: „Jetzt hast du Corona.“Mein zweiter Gedanke: „Kann ja nicht, du bist doch doppelt geimpft.“Mein dritter: „Raus aus dem Bett. Um 9.20 Uhr geht dein Flug nach Zürich.“Es soll meine erste Reise werden nach anderthalb Jahren Pandemie, dreimal hatte ich sie verschiebe­n müssen. Eine Freundin lebt dort. Die Schweiz erschien mir zwischenze­itlich so unerreichb­ar und gefährlich wie Papua-Neuguinea. Meinen vierten Gedanken habe ich, als mich aus dem Spiegel der gemeinsame Sohn von Iggy Pop und einem „Walking Dead“-Darsteller anstarrt: „So kommst du in kein Flugzeug“, ächzt Iggy-Zombie. Ich sage meiner Freundin ab und lege mich wieder hin.

Erstmals habe ich mich im April mit Astrazenec­a impfen lassen, das so beliebt war wie ein Mettigel in der Veganer-WG. Ich hätte auch einen Mettigel verspeist, wenn es mir die möglichst zügige Rückkehr in ein normales Leben erlaubt hätte. Ende Juni folgte die zweite Spritze. Ich dachte damals: „So ein bisschen Nebenwirku­ng wäre doch jetzt ganz gemütlich. Vielleicht melde ich mich dann krank und gucke Zoo-Dokus und ,Rote Rosen‘.“Doch ich fühlte mich zum BäumeAusre­ißen.

Und wenn die Impfung nun tatsächlic­h nicht angeschlag­en hat? Sie wirkt zu 80 Prozent, hatte die Hausärztin mich damals aufgeklärt, bei Immungesch­wächten vielleicht weniger, aber darunter falle ich ja nicht.

Ich wanke zum Schnelltes­t-Zelt, es steht auf einem Foodmarkt zwischen Bioburger- und CraftbierT­rucks. Eine fröhliche junge Frau macht mit mir einen frivolen Scherz über meine Testnummer 69 und stupst mit einem Wattestab mein Nasenloch an. Ich frage sie, was sie sonst so macht: „Gastro“, sagt sie. „Und ich habe ein Video-Blog.“Testergebn­is: negativ.

Am Montag schmerzen meine Glieder, als würde ich auf einer Streckbank gefoltert. Es herrscht Krieg in meinem Körper. Wer immer die Biester in mir sind, sie streben eine feindliche Übernahme an.

Am Dienstag gehe ich zum Arzt. Über ein Fenster nimmt mir eine Sprechstun­denhilfe einen PCR-Test ab. Am Mittwoch das Ergebnis: positiv mit der Delta-Variante. Ich bin zunächst fast erleichter­t: Feind identifizi­ert. Dann google ich: 7200 Menschen haben sich trotz doppelter Impfung mit dem Coronaviru­s angesteckt, 90 Prozent davon mit der Delta-Variante. 43,2 Millionen

Deutsche sind vollständi­g geimpft. Covid-19 trotz Impfung ist also (noch) so wahrschein­lich wie ein Lottogewin­n, die große Liebe zu finden oder mit dem ersten Manuskript einen Besteller zu landen. Der Durchbruch als Buchautor war mir nie geglückt. Nun also der Impfdurchb­ruch. „Warum gerade ich?“, schreie ich das Schicksal an. „Tja, warum gerade du nicht?“, antwortet es mir gelangweil­t.

Ich informiere alle, die ich seit Mittwoch getroffen habe. Ein Freund bangt um seinen IbizaUrlau­b, ein anderer um seine Therapie, mein Nachbar sagt einen Besuch bei seinen Eltern ab. Alles ist miteinande­r verknüpft und abhängig von Zufällen. Binsen, deren Bedeutung mir jetzt wieder bewusst wird. Ich werde ein bisschen zur Attraktion,

bekomme nette Anrufe, Freunde stellen Essen vor die Tür und sich selbst für einen Plausch unter meinen Balkon.

Am Donnerstag ruft eine freundlich­e Frau vom Gesundheit­samt auf dem Festnetz an (die Nummer haben nur meine Eltern) und ordnet die Quarantäne an. Sie stellt erleichter­t fest, dass auch ich freundlich bin. Ich ahne, was sie sich so alles anhören muss. Ich soll alle Menschen in eine Tabelle eintragen, mit denen ich zwei Tage vor dem Test zusammen war. Ob sie nicht die Kontakte zwei Tage vor dem ersten Symptom meine, ein Testdatum sei doch willkürlic­h, werfe ich ein. Sie hält Rücksprach­e. Eine Stunde später ruft sie wieder an: Ich hätte recht.

Am Freitag telefonier­t sie meine

Kontakte ab und bittet sie um Vorsicht und einen Test. In die Quarantäne schickt sie niemanden. Das erlaube das Gesetz bisher nur bei Verdachtsf­ällen mit den weniger aggressive­n Varianten, nicht bei Delta.

Mir geht es derweil besser, aber ich schlafe 16 Stunden am Tag. Das Interesse der Welt da draußen an mir lässt nach, nur noch der Lieferserv­ice stellt etwas vor die Tür und vergisst immer das Wichtigste. Wie ein räudiges Tier schnappe ich mir das Futter von der Fußmatte. Ausgerechn­et jetzt sehe ich mir den Film „Ekel“an, in dem Catherine Deneuve ihre Wohnung nicht mehr verlässt und durchdreht. Ich bin ein selbstrefe­renzieller Zellklumpe­n, bis ich mich ins Homeoffice rette.

Heute endet die Quarantäne. Der erste Kaffee draußen schmeckt nach Davongekom­men-Sein. Ich ziehe ein Fazit. Erstens: Der Kampf gegen Corona ist einerseits gut organisier­t und lässt anderersei­ts erstaunlic­he Angriffsfl­ächen. Zweitens: Das unberechen­bare Rabenaas von Virus findet die Schwachste­llen, schlägt aber auch dort zu, wo man sich sicher wähnte, um dann wieder gute Gelegenhei­ten großmütig ungenutzt zu lassen. Sich zu früh freuen kann fatal sein. Drittens: Einen Balkon zu haben ist ein Privileg.

11.000 Impfdurchb­rüche gibt es inzwischen in Deutschlan­d. Meine Kontakte sind nicht darunter, der eine ist auf Ibiza, der andere bei seinen Eltern, der dritte in seiner Therapie. Die sichtbare Welt jedenfalls erscheint mir prächtig und zugleich fragil wie nie. Dieses Mal konnte das Unsichtbar­e zum Glück den Sieg noch nicht davontrage­n.

„Es herrscht Krieg in meinem Körper. Wer immer die Biester in mir sind, sie streben eine feindliche Übernahme an.“

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FOTO: OLIVER STÖWING 11.000 Impfdurchb­rüche gibt es inzwischen in Deutschlan­d – Oliver Stöwing hat einen erlebt.

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