Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Pandemie-Kanzler in spe warnt im Bundestag: Sehr viele Ungeimpfte werden krank werden. Bund und Länder beraten kommende Woche über eskalierende Coronalage
Liebe Leserinnen, liebe Leser! Berlin. Nach langer Zeit mal wieder. Und dann auch nur ganz kurz. Das Hotel steht in Sichtweite des Alexanderplatzes. Vom Fenster aus sehe ich eine Kirchenruine, die mir zuvor noch nie in den Blick gekommen ist. Als Fußgänger bin ich früh am Morgen weit unterwegs, um überhaupt mal über die Straße zu kommen. Die ganze Stadt scheint eine Baustelle zu sein.
Die andere Kirchenruine, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, kenne ich schon lange. Die Ruine gleich hinter dem Gericht dagegen betrachte ich nun das erste Mal. Ein Überbleibsel der Bombenangriffe. Ein Mahn- und Erinnerungsort im Schatten der sich stets erneuernden Stadt. Ich gehe weiter und suche erneut nach einem Übergang über die vielspurigen Straßen. Gelange in die Nähe des Hauses des Lehrers, stehe kurz danach vor der Weltzeituhr.
Die Welt geht ihren Gang. Sie lässt sich so schnell nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht in diesen Zeiten, in denen immer häufiger nicht nur verbal aufgerüstet wird und in der sich immer mehr Menschen sozusagen unversöhnlich gegenüberstehen. Es sind Zeiten, in denen es nicht mehr ums Leben und Leben lassen, sondern ums Recht haben geht.
Zugleich stehen wir vor einem Winter der vielfachen Herausforderungen. Es scheint leichter, eine Pandemie zu besiegen, als die Menschen, die sich anbrüllen und wohl auch bekriegen, zu befrieden. g.sommer@tlz.de
Berlin.
Mit dem ersten Satz macht Olaf Scholz (SPD) klar, dass er eine Kanzlerschaft im Krisenmodus beginnen muss. „Das Virus ist noch unter uns“, sagt er am Donnerstag im Bundestag bei der Einbringung eines Gesetzespakets der AmpelParteien SPD, FDP und Grüne.
Wiewohl die Lage nach der Impfkampagne anders sei, „ist sie noch nicht gut“. Scholz: „Sehr, sehr viele von denen, die sich nicht geimpft haben, werden krank werden.“
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus wird ihm später vorhalten, seine Rede sei mehr eine „Zustandsbeschreibung“als eine kraftvolle politische Aussage gewesen. Die Frage ist, ob Scholz das wirklich als Vorwurf empfindet. Politisch auftrumpfen, rhetorisch punkten, mit dem erstem großen Aufschlag der Ampel-Parteien nach der Bundestagswahl auf sich aufmerksam machen? Das ist erkennbar nicht seine Priorität. Er stellt die Lage dar und die Notfallpläne der Ampel vor. Nüchtern, sachlich, unaufgeregt, im Schnelldurchgang. Nach elfeinhalb Minuten ist er durch.
Seinem politischen Lebensgefühl kam es entgegen, dass Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“am 25. November auslaufen lassen will. Aber die Rekordzahlen im Herbst – Neuansteckungen und Anstieg der Krankheits- und Todesfälle – belehrten Scholz eines Besseren: dass er Deutschland gewissermaßen „winterfest“machen muss. Und die Ampel-Wunschpartner bereits unter Handlungsdruck stehen, obwohl sie noch nicht in der Regierung sind und ihre Koalitionsverhandlungen
noch platzen könnten. Keiner verkörpert die Kontinuität in der Verantwortung so zweifelsfrei wie Scholz: Vizekanzler der großen Koalition, von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) längst wie ein Debütant in den weltweiten Reigen der Regierungschefs eingeführt.
Erst der Bundestag, danach die Länder Für die nächste Woche kündigt er ein Bund-Länder-Treffen an, eine Ministerpräsidentenkonferenz. In der Reihenfolge steckt eine politische Botschaft: Die drei Parteien haben sich auf ein Gesetzespaket verständigt, das sie erst im Parlament zur Diskussion stellen und danach mit den Ministerpräsidenten beraten wollen. Bisher lief das Corona-Management
meist andersherum: Erst trafen Bund und Länder Vereinbarungen, danach verhielt sich das Parlament dazu.
Indes geht es um mehr als um Fragen des Stils und der politischen Etikette, sondern um eine Rückkehr zur staatlichen Normalität: Originär sind die Länder für den Infektionsschutz zuständig. Davon war man – im Affekt des Corona-Ausbruchs im Frühjahr 2020 – abgekommen. Am Donnerstag aber gab SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich vor der Parlamentssitzung zu Protokoll, dass man im Infektionsschutzgesetz alles auf den Weg bringe, „was die Länder brauchen, um regional gut reagieren zu können“. Seine Grünen-Kollegin Katrin Göring-Eckardt machte klar, dass sie für weitere Vorschläge („Dann werden wir darüber reden“) der Länder oder der Opposition offen sei. „Das ist nicht in Stein gemeißelt“, versicherte sie. Auch Scholz fände es nach eigenen Worten „schön, wenn es parteiübergreifend getragen wird“. Ganz klar, die Länder sind am Zug. Der Bund will aber drei Maßnahmen durchsetzen.
Erstens kostenfreie Corona-Tests für jedermann, sogenannte Bürgertests. Erst Mitte Oktober hatte der Bund den Geldhahn zugedreht, den er nun wieder öffnen will. Zweitens eine 3G-Regel (geimpft, genesen, getestet) am Arbeitsplatz. Wobei die Länder den Spielraum haben, für Veranstaltungen (Theater, Kinos Restaurants etc.) eine 2G-Regel vorzuschreiben und damit Ungeimpfte sogar mit einem negativen Test auszuschließen. Scholz: „Ich halte das für einen guten Fortschritt.“Die Möglichkeiten dafür schaffe man jetzt. Von den angesprochenen Ländern kommen umgekehrt Forderungen, 2G bundesweit auszuweiten. Drittens steht eine Testpflicht in Alten- und Pflegeheimen an, nachweislich eine lebensrettende Maßnahme. „Das war nicht zu ertragen, was wir am Anfang der Pandemie erlebt haben“, so Scholz, der damit daran erinnerte, dass viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen an Covid-19 erkrankten und starben. Dieses Drama soll sich nicht wiederholen. Der FDP-Fraktionsmanager Marco Buschmann beklagte: „Unser Land hat versagt beim Schutz der Älteren.“
Corona-Auflagen besser überwachen Wahrscheinlich werden viele Scholz in der Einschätzung recht geben, dass eine höhere Impfquote die „beste Lösung“wäre. Er warb für eine „große, gemeinsame Impfkampagne“. Hauptadressat können hier nur die Länder und Kommunen sein – ebenso wie bei seiner Forderung nach einer Überwachung der Einhaltung der Corona-Auflagen. Es sei wichtig sicherzustellen, dass in den Restaurants die Zutrittskriterien überwacht würden. „Es kann nicht sein, dass wir solche Vorschriften haben. Und jeder geht ins Restaurant und merkt, dass sie nicht beachtet werden“, so Scholz.