Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Von wegen „letzte gerichtliche Instanz“
Warum das Bundesarbeitsgericht vor manchen Entscheidungen zunächst bei seinen europäischen Richterkollegen nachfragt
Erfurt.
Entscheidungen bei Bundesgerichten haben etwas Endgültiges. Gerade hat das Erfurter Bundesarbeitsgericht (BAG) schlussendlich darüber befunden, dass Arbeitgeber von Fahrradlieferanten den Beschäftigten ein Fahrrad und ein geeignetes Mobiltelefon als Arbeitsmittel zur Verfügung stellen müssen. Die zugelassene Revision des beklagten Arbeitgebers hatte also keinen Erfolg. (AZ 5 AZR 334/21)
Doch nicht immer können Kläger und Beklagte, deren Fälle beim Bundesarbeitsgericht landen, mit einem sofortigen Richterwort der BAG-Juristen rechnen. Grund dafür ist das EU-Recht. „Das BAG ist als letztinstanzliches Gericht in Arbeitsrechtsstreitigkeiten verpflichtet, Fragen zur Auslegung des Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Vorabentscheidung vorzulegen, wenn dies für seine Entscheidung erforderlich ist und die Frage nicht bereits geklärt ist“, erklärt BAGSprecherin Stephanie Rachor. Dies könne etwa in allen 27 Mitgliedsstaaten geltendes Unionsrecht wie die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) oder, was in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten häufiger vorkomme, die nationale Auslegung europäischen Richtlinienrechts betreffen. Beispiele dafür sind die Massenentlassungs-Richtlinie oder die Gleichbehandlungsrichtlinie.
Eine Statistik über die Anzahl solcher Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gibt es nicht. Verglichen mit der Gesamtzahl der Verfahren handele es sich um Einzelfälle. Die können allerdings für die streitenden Parteien noch einmal eine deutliche Verlängerung der Prozessungewissheit bedeuten. Laut Rachor liegen die erbetenen Antworten des EuGH in der Regel erst nach anderthalb bis zwei Jahren vor. Bis dahin wird das anhängige Verfahren ausgesetzt. Anschließend entscheidet das BAG auf der Basis der vom EuGH gegebenen Antwort.
Auslegungen des Unionsrechts durch den EuGH seien für die nationalen Gerichte und damit auch das BAG bindend, betont Richterin Rachor. Die Anwendung auf den konkreten Streitfall obliege dagegen dem nationalen Gericht. „Hier kann es Spielräume geben, die nicht vom Unionsrecht determiniert sind“, so die BAG-Vertreterin.
Beispiele für die Auswirkung von EuGH-Anrufungen auf Entscheidungen des BAG sind etwa der Fall der Kündigung eines Chefarztes in einem katholischen Krankenhaus wegen seiner Wiederverheiratung (2 AZR 746/14) – hier ging es um die Gleichbehandlungsrichtlinie – oder die Rechtsprechung des BAG, dass gesetzliche Urlaubsansprüche vor Ablauf eines Zeitraums von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war (9 AZR 353/10). Ein Fall aus dieser Woche, zu dem zwischenzeitlich die Antwort des EuGH vorlag, bezog sich auf das Tragen eines Kopftuches während der Arbeit bei einer Drogeriemarktkette. Vor dem endgültigen Termin einigten sich die Parteien allerdings per Vergleich (10 AZR 299/18).