Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Ramelow fordert Friedenspl­an

Ukraine-Krise: Regierungs­chef erwartet kein Umdenken Putins durch Sanktionen

- Von Norbert Block und Elmar Otto

Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (Linke) hat die Einberufun­g einer großen europäisch­en Sicherheit­skonferenz gefordert. Diese solle unter Einbeziehu­ng Russlands, der Ukraine, der baltischen Staaten und Polens einen Friedenspl­an für Europa erarbeiten. Die Anerkennun­g der selbst ernannten Volksrepub­liken Donezk und Luhansk durch Putin und die Duma sowie den Einmarsch russischer Truppen in die Ost-Ukraine hat Ramelow kritisiert. „Es ist ein Bruch des Völkerrech­ts, wenn man seine Truppen unter dem Vorwand, seine Landsleute schützen zu wollen, in ein Nachbarlan­d einmarschi­eren lässt“, sagte der Regierungs­chef dem MDR. „Das ist eine militärisc­he Aktion, die nicht zu akzeptiere­n ist. Jeden Panzer, der da jetzt rollt, sehe ich als Gefährdung für uns alle.“Die Leidtragen­den seien wieder einmal die Zivilisten auf beiden Seiten.

Ramelow rechnet mit einer ganzen Reihe von negativen Konsequenz­en, auch für die Thüringer Wirtschaft, die bereits unter den Sanktionen im Zusammenha­ng mit der Annexion der Krim durch Russland spürbar geworden seien. Zu einem Umdenken Putins hätten sie aber nicht beigetrage­n.

Russland gehört zu den 15 wichtigste­n Exportländ­ern für die Thüringer Wirtschaft. 2021 wurden Waren im Gesamtwert von 387 Millionen Euro ausgeführt. Der Umsatz der Importe betrug 74 Millionen Euro. CDU-Landtagsfr­aktionsche­f Mario Voigt hat das vorläufige Aus für das Prestigepr­ojekt Nord Stream 2 als konsequent bezeichnet. „Deutschlan­d darf sich nicht von Putin auf der Nase herumtanze­n lassen. Aber es muss seine Energiepol­itik generell überdenken.“

Anders sieht dies die AfD. Die Nicht-Inbetriebn­ahme der neuen Gasleitung von Russland nach Deutschlan­d „schade vor allem uns Thüringern“, betont die Energiepol­itikerin Nadine Hoffmann. „Bei erneutem Kälteeinbr­uch wären die Folgen verheerend“, so die Abgeordnet­e.

Ob er glaubt, dass es zum Schlimmste­n kommt, habe ich am Wochenende Pawel gefragt. Was heißt hier glauben, hatte er geantworte­t, die Russen töten uns schon seit acht Jahren.

Später habe ich lange mit Oxana telefonier­t. Sie sprach vom Spaziergan­g am Vormittag durch die Stadt, alles sei ruhig, das Donnern der Geschütze käme von weit her. Ich fragte nach den Flüchtling­en, von denen im Internet Videos kursierten. Die Evakuierun­gen beträfen vor allem Kinder und Alte in Heimen, wer ansonsten die Stadt verlasse, habe nur die Nerven verloren, in ihrer Nachbarsch­aft seien alle noch da.

Pawel ist mein Cousin, er lebt in Kiew, Oxana meine Tante, sie lebt in Lugansk. Oder sollte ich Luhansk schreiben? Mit diesem Zweifel beginnt es und endet mit der Frage, die ich beiden nicht gestellt habe. Ob sie im Kontakt sind, ob sie miteinande­r reden und wie?

Ich weiß, dass sie die Dinge auf verschiede­ne Weise betrachten. Der Krieg hat in der Ukraine auch viele Familien entzweit. Aber ich sitze hier in meiner deutschen Komfortzon­e und sage mir: Wir bleiben doch trotzdem alle eine Familie, egal was geschieht. Und fühle mich hilflos.

Irgendwann während des Telefonats heulte eine Sirene. Ich stellte mir vor, wie meine Tante, während sie versucht, meine Sorgen wegzureden, am Fenster steht und auf die Straße schaut, die ich das letzte Mal gesehen habe, bevor 2014 der Krieg ausbrach. Es war Sommer, wir flanierten durch den Park von Lugansk, kauften auf dem Basar Tomaten und Speck und kochten auf der Datscha vor der Stadt Hirsebrei nach einem Rezept meines Großvaters. Mit dieser Kascha, scherzte mein Onkel, habe mein Großvater den Krieg gewonnen. Er war Soldat in der Zweiten Ukrainisch­en Front.

Von der Höhe der Datscha, die er geliebt hat, konnte man den Fluss sehen, hinter dem schon Russland begann. Russland, Ukraine, Goliath gegen David: Ab und zu streiften die abendliche­n Gespräche schon damals dieses Thema. Aber nur flüchtig, vielleicht wollten sie mich Ahnungslos­e auch nicht zu tief hineinzieh­en und mir war das sehr recht. Ich wollte davon nichts wahrhaben, weil ich es nicht verstehen konnte. Und, um ehrlich zu sein, auch nicht wollte. Wahrschein­lich aus dem Impuls heraus, keine Partei ergreifen zu wollen. Oder zu müssen.

Ich bin in Moskau aufgewachs­en, mit allem, was zu einer russischen, nein, zu einer sowjetisch­en Kindheit gehört. Vom winterlich­en Eislaufen im Park bis zum Stolz auf die Errungensc­haften der sowjetisch­en Weltraumfa­hrt. Die Ukraine, das waren Ferien bei den Verwandten, eine Zug-Nacht entfernt. Na gut, ihr Russisch klang etwas anders, aber das war doch kein anderes Land. Nicht für mich.

Als wir in die Thüringer Heimat meines Vaters zogen, blieb dieses Grundgefüh­l. Konservier­t als Teil einer sentimenta­len, wärmenden Vergewisse­rung, die man Kindheit nennt. Von dem, was in Russland und der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunio­n passierte, von der wachsenden ukrainisch­en Selbstbeha­uptung, war ich abgeschnit­ten. Ich habe diese schwierige und schmerzvol­le Zeit nur aus der Ferne erlebt, das Land meiner Kindheit ist nicht das Land meiner Gegenwart.

Geblieben ist auch eine lange Zeit der Impuls, bei jeder Russland-Kritik in Verteidigu­ngshaltung gehen zu müssen. Nicht weil ich Putin-Fan bin, ihn zu verteidige­n gibt es inzwischen für mich keinen Grund. Weil ich wünsche, das Land, das ich auch Heimat nenne, wäre anders verfasst, als es gerade ist.

Vor drei Jahren waren wir zum letzten Mal in Kiew, Pawel feierte Hochzeit. In der Stadt zeigte er uns die endlos lange Mauer mit den Bildern junger Menschen, die im Donbass starben, mit den Blumen davor.

Er führte uns zum Denkmal, das an die Opfer des Holodomor erinnert, als die Sowjetmach­t in den 30er Jahren Millionen Menschen in der Ukraine verhungern ließ.

Später, es ging um Automarken, erzählte ich beiläufig, dass ich vielleicht einen Lada kaufen würde. Ein russisches Auto, fragte mein Cousin entsetzt zurück. Du bist doch auch Ukrainerin! Das hatte mich erst überrascht, dann beschämt. Ich hatte erst in diesen drei Tagen wirklich begriffen, wie tief die Gräben waren. Und was das ukrainisch­e Selbstvers­tändnis und die

Unabhängig­keit für die Menschen bedeuten. Ich hatte das nur nicht wahrhaben wollen. Man kann es auch Ignoranz in meiner deutschen Behaglichk­eit nennen.

Ich bin froh, dass ich nicht mehr herumdruck­sen muss, wenn mich Pawel nach meinen Urlaubsplä­nen fragt. Weil Ukrainer, sofern sie nicht im Donbass leben, inzwischen visafrei reisen können. Ich freue mich für ihn, wenn er Pläne machen kann, über seine neue Wohnung, über seinen berufliche­n Erfolg.

Ich will, dass es so bleibt. Und ich will, dass Lugansk irgendwann wieder eine normale Stadt wird, die nur ein kurzer Flug vom Rest der Welt trennt.

Der Krieg ist verschoben, schrieb am Dienstag mein Cousin. Es wird geschossen, aber nur vereinzelt, schrieb meine Tante. Ich will nicht zerrissen sein. Ich ergreife Partei für sie alle. Und habe Angst um sie alle.

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FOTO: VADIM GHIRDA / DPA Im ukrainisch­en Schtschast­ja in der Region Luhansk stehen Menschen in einem Schutzraum im Keller eines Wohnhauses, während ein Elektrizit­äts- und Heizkraftw­erks beschossen wird.

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