Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Die AfD wollte aus der Wut über die Corona-Maßnahmen Kapital schlagen - gerade im Osten. Doch inzwischen geben noch radikalere Kräfte von rechts den Ton an

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Liebe Leserinnen, liebe Leser. Als Wladimir Putin jüngst seine Gesprächsp­artner an diesen langen Tisch bat, hatte ich noch die Hoffnung, dass das Tischtuch gar nicht zerschnitt­en werden kann, weil auf dem Tisch kein

Tuch lag. Das verwunderl­iches Möbelstück schien ja vor allem auch als eine politische Botschaft nach dem Motto gedacht: Hier kommt alles auf den Tisch.

Aber es kam ganz anders – und das sicherlich von langer Hand so gewollt. Für mich scheint der Weg, der da beschritte­n werden soll, insofern klar – auch wenn ich es aus friedliebe­nden Gründen lieber nicht wahrhaben möchte –, seit ich mir einen längeren Beitrag eines wirklichen Putin-Kenners zu seiner historisch­en Rede vergangene­s

Jahr angehört habe. Viele fanden es eher befremdlic­h, dass da einer, der sonst zwischen Staatspräs­identen und Ministerpr­äsidentenr­olle wechselt, sich ganz tief in seine ganz eigenen Geschichts­wissenscha­ften vergraben und Erstaunlic­hes hervorgeho­lt hatte.

Dass, was Putin seither als richtig erachtet und durchsetzt, bestimmt die aktuelle Lage: Im Grunde, sagte Putin als Historiker, gibt es die anderen – in diesem Falle die Ukraine – gar nicht als eigenständ­ige Gebilde, allenfalls als kleine Brüder. Wer das zu Ende denkt und sich überlegt, was das in der Konsequenz an Handlungen nach sich zöge, der könnte sich schon mal eine neue Karte von den Ländergren­zen in Osteuropa malen. Lieber nicht! g.sommer@tlz.de

Boizenburg. Die Drohung am Ende ist unmissvers­tändlich. „Und passen Sie auf, manche Gassen hier sind dunkel“, ruft der mittelalte Mann halblaut am Marktplatz von Boizenburg, im Westen Mecklenbur­gs. Journalist­en seien „nicht willkommen“, ruft ein anderer. Und dann noch: „Wir vermissen Sie hier nicht. Gehen Sie!“

So sieht es ein Mann mit Vollbart und kantiger Brille. So sehen es auch die anderen Männer, die hinzugekom­men sind und sich um den Journalist­en und den älteren Herrn mit seinem Fahrrad sammeln, der gerade noch erzählt hatte, warum er heute „spazieren“geht. „Es ist hier Diktatur 2.0“, hatte er noch gesagt. „Wenn Sie glauben, dass es einen Virus gibt, dann sind Sie hier falsch.“

Boizenburg an einem Montagaben­d im Februar. Was hier abläuft, passiert zeitgleich an vielen anderen Orten in Deutschlan­d. Menschen gehen, meist in kleinen Cliquen, in der Innenstadt „spazieren“, wie sie selbst sagen. Der „Spaziergan­g“ist ein Trick, um das Demonstrat­ionsverbot zu umgehen. Einen Anmelder gibt es nicht.

Mittlerwei­le ein gewohntes Bild: AfD-Anhänger – hier in Frankfurt (Oder) – protestier­en gegen die CoronaSchu­tzmaßnahme­n.

net die AfD – deren Politiker selbst gegen die „Alt-Parteien“und die „Corona-Diktatur“agitieren. Ausgerechn­et sie verliert offenbar an Zuspruch auf der Straße.

Die AfD inszeniert sich als parlamenta­rischer Arm der „Spaziergän­ger“. Teilweise geht die Strategie auf. Die Partei bekommt einerseits viel Zuspruch, bleibt in Umfragen seit Monaten stabil. Doch die Parteistra­tegen merken auch, dass andere Parteien und Bündnisse besser ankommen mit organisier­ten Aktionen gegen die Corona-Maßnahmen – und an Macht gewinnen. Vor allem im Kernland des Protests, in Ostdeutsch­land, vor allem in Sachsen. Dort prägen inzwischen die „Freien Sachsen“das Geschehen. Die Partei hat fast 150.000 Mitglieder auf ihrem Telegram-Kanal. Der Messengerd­ienst ist zentrales Kommunikat­ionsmittel unter Anhängern der Corona-Leugner-Szene und der extremen Rechten. Die AfD in Sachsen hat auf ihrem Kanal nur gut 1300 Abonnenten.

Die „Freien Sachsen“, vom sächsische­n Verfassung­sschutz als rechtsextr­em eingestuft, bekommen Unterstütz­ung. Die NPD beteiligte sich an den „Spaziergän­gen“. Das Parteiorga­n „Deutsche Stimme“interviewt­e „Freie Sachsen“-Chef Martin Kohlmann. Man stehe „in gutem Kontakt zu dieser neuen Sammelbewe­gung“. Auch die Neonazi-Partei „Der III. Weg“zeigt sich offen, nennt „Freie Sachsen“eine „Sammelbewe­gung aus verschiede­nsten freiheitli­chen und patriotisc­hen Initiative­n“. Die extrem rechte Gruppe „Ein Prozent“, die der Identitäre­n Bewegung nahesteht, druckt Flyer mit einem „SoliFonds“für die unangemeld­eten Demonstran­ten.

„Wir erleben seit einigen Monaten eine Radikalisi­erung der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Sachsen“, sagte Verfassung­sschutzche­f Dirk-Martin Christian

Redaktion. Entscheide­nd sei die Debatte über die Einführung einer allgemeine­n Impfpflich­t. Diese Diskussion habe den führenden Köpfen der rechtsextr­emistische­n Szene enormen Zulauf gebracht. Dabei spiele den Corona-Gegnern in die Hände, dass laut Studien in Sachsen fast 30 Prozent der Menschen an Verschwöru­ngstheorie­n glauben. Diese Ideologien seien der Einstieg in den Rechtsextr­emismus.

Streit in der AfD über Abgrenzung­sbeschluss

Im Machtberei­ch Ost der AfD sind nun andere rechte Parteien und Netzwerke im Aufmarsch. Für die Strategen der AfD ist das ein Dilemma. Sie schlagen radikale Töne an – wollen zugleich eine Beobachtun­g durch den Verfassung­sschutz verhindern und für „bürgerlich­e“Wähler eine Option bleiben.

Der AfD-Bundesvors­tand hat einen „Unvereinba­rkeitsbesc­hluss“verabschie­det. Für Anhänger der „Freien Sachsen“wird eine Mitgliedsc­haft in der AfD ausgeschlo­ssen. Vor allem der radikale „Flügel“der AfD, etwa der Thüringer Landesverb­and um Björn Höcke, kritisiert die Abgrenzung. Im Netz verstärkt sich Wut und Häme gegen die Partei. Ein Nutzer auf Telegram kommentier­t: „Das ist der Beginn vom Ende der AfD.“

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