Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Betroffene haben wenig Vertrauen in Behörden
Im vergangenen Jahr gab es mehr als 200 antisemitische Vorfälle
Beschimpfungen, Beleidigungen, Verharmlosungen des Holocaust: Für Jüdinnen und Juden in Thüringen ist Antisemitismus ein alltagsprägendes Phänomen. Um Anfeindungen zu entgehen, verzichtet die Mehrzahl von ihnen auf sichtbare jüdische Symbolik oder verschweigt jüdische Identität.
Der Befund geht aus einer Studie der Thüringer Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) hervor, die am Dienstag zusammen mit dem ersten Rias-Jahresbericht vorgestellt wurde. Er dokumentiert für 2021 insgesamt 212 antisemitische Vorfälle im Freistaat.
Auffällig dabei ist die hohe Zahl der Fälle, bei denen Proteste gegen Corona-Maßnahmen antijüdische Stereotype bedienten oder NS-Verbrechen relativierten. So gehen allein 85 der Vorkommnisse auf eine gezielte Aktion gegen die Gedenkstätte Buchenwald und MittelbauDora zurück, deren Mitarbeiter im Herbst 2021 mit einer Flut von Hassmails und Drohanrufen überzogen wurden, in denen Infektionsschutz mit der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus gleichgesetzt wurde, so Rias-Leiterin Anja Thiele. Die Dokumentationsstelle listet auch 13 Sachbeschädigungen gegen jüdische Einrichtungen und Gedenkstätten und 56 Fälle verletzenden Verhaltens wie antisemitische Schmiereiern, Plakate oder Aufkleber.
Und lange nicht jeder Vorfall wird von Polizei und Justiz als antisemitisch gewertet. Als Beispiel nannte der Geschäftsführer des Rias-Bundesverbandes Benjamin Steinitz „Juden-Jena“-Pöbeleien beim Fußball. Die Folgen solcher Fehleinschätzungen seien erheblich. Für Täter ein Signal, dass ihre Ausfälle folgenlos bleiben können, für Betroffene ein weiterer Beleg, in Strafverfolgungsbehörden nicht den ersten Ansprechpartner zu sehen. Ein gewichtiger Grund, warum so viele Vorfälle nicht einmal gemeldet werden. Staatskanzleichef BenjaminImmanuel Hoff (Linke) sprach von der notwendigen Ausleuchtung eines Graubereichs. Der Befund mache deutlich, wo nachjustiert werden müsse: unter anderem in der Ausbildung von Polizei und Juristen, um die Sensibilität gegenüber Antisemitismus zu erhöhen.