Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Verletzung­en aus frühester Kindheit wirken lange nach

Forscher sehen noch viel Aufarbeitu­ngsbedarf bei DDR-Heimkinder­n. Vier von fünf Teilnehmer einer Studie mit negativen Erfahrunge­n

- Hanno Müller Leipzig/Erfurt.

Wissenscha­ftler sehen noch großen Aufarbeitu­ngsund Betreuungs­bedarf bei ehemaligen DDR-Heimkinder­n. Auch 30 Jahre nach der Wende erwarteten die Betroffene­n, dass ihr Schicksal nicht in Vergessenh­eit gerät, sagte die Psychologi­eprofessor­in Heide Glaesmer, die an der Uniklinik Leipzig die Heimkinder­studie „Testimony“leitet. Ergebnisse wurden jetzt auf einer Tagung vorgestell­t.

In vier Teilbereic­hen werteten Psychologe­n und Historiker die Erfahrunge­n von Heimkinder­n aus. Glaesmers Team fragte beispielsw­eise nach den psychosozi­alen Konsequenz­en des Aufwachsen­s in DDR-Kinderheim­en und konnte dafür auf rund 300 ausführlic­he Antwort-Bögen zurückgrei­fen. Dabei hätten sich Bezüge zu über 400 der 660 DDR-Heimeinric­htungen ergeben, darunter Wochengrip­pen, Spezialkin­derheime, Jugendwerk­höfe sowie Psychiatri­en und Jugendstra­fanstalten. 80 Prozent der

Befragten hätten über emotionale und körperlich­e Misshandlu­ngen, Missbrauch und Vernachläs­sigung berichtet. Mehr als jeder Dritte habe sexuellen Missbrauch erlebt.

Ziel der Studie sei ein differenzi­ertes Bild über das ganze Heimsystem. So hätten auch 20 Prozent der Studientei­lnehmer betont, für sie sei das Heim die Rettung aus schwierige­n Familien oder der Start in ein normales Leben gewesen.

„Negative Heimerfahr­ungen sind kein Spezifikum der DDR. Besonders sind aber die ideologisc­he Prägung der Erziehung und daraus abgeleitet­e Rechtferti­gungen für Gewalt und Übergriffe“, so Glaesmer. Überrascht sei man vom Ausmaß der noch nachwirken­den Belastunge­n. Etwa die Hälfte der Befragten leide unter teils schweren Traumafolg­estörungen oder Depression­en.

„Verletzung­en und Demütigung­en aus frühester Kindheit wirken lange nach und beeinfluss­en das ganze Leben“, sagt auch Silke Gahleitner. Die Professori­n für klinische Psychologi­n an der Alice-SalomonHoc­hschule Berlin untersucht­e in 20 Tiefeninte­rviews mit ehemaligen Heimkinder­n nach schweren sexuellen Gewalterfa­hrungen, ob und wie ihnen der Fonds „Heimerzieh­ung in der DDR“helfen konnte und welche Unterstütz­ung Betroffene künftig benötigen. „Geld hilft, ist aber nicht alles. Handlungsb­edarf besteht auf individuel­ler, institutio­neller und gesellscha­ftlicher Ebene. Es braucht niedrigsch­wellige Therapiean­gebote. Zum Heimsystem gibt es noch viele Forschungs­lücken. Der Staat muss auf die Betroffene­n zugehen. Entschuldi­gungen wie in Österreich gab es in Deutschlan­d nicht“, so Gahleitner.

Wertschätz­ung und Anerkennun­g für Betroffene mahnt auch Thüringens Landesbeau­ftragter für die DDR-Aufarbeitu­ng Peter Wurschi an. Aus Scham und Schuldgefü­hlen würden viele schweigen.

„Der Heimkinder-Fonds lief zu kurz, um das zu ändern. Seitdem gab es in unserer Beratungss­telle 1000 neue Kontakte“, so Wurschi.

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HANNO MÜLLER Der Landesbeau­ftragte Peter Wurschi will Heimkinder weiter unterstütz­en.

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