Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Plötzlich im Schützengraben
Unsere Reporter reisten an die Ukraine-Front und trafen Menschen zwischen Hoffen, Verzweiflung und namenlosen Gräbern
Alexiy sitzt an einem einfachen Holztisch, aus der Erdwand hinter ihm ranken sich kleine Wurzeln in dem niedrigen Verschlag. Auf dem Tisch steht Instantkaffee, auf dem Boden lagern Wasserflaschen. Die Decke haben sie aus Holzbalken gezimmert, sie sieht stabil aus. Das muss sie sein, weil der Feind nicht weit entfernt ist und mit seiner Artillerie immer wieder in die Richtung feuert, in der sich die kleine, von Bäumen geschützte Position befindet, die Alexiy und die anderen ukrainischen Soldaten in den vergangenen Wochen befestigt haben. „Das hier ist ein sehr gefährlicher Ort“, sagt der junge Mann. Er ist jetzt seit drei Monaten hier.
Die Oblast Mykolajiw im Süden der Ukraine. Seit dem Beginn des russischen Überfalls toben hier Kämpfe. Im März standen russische Truppen schon in den Vororten der Stadt, die der Oblast ihren Namen gegeben hat. Seitdem sind sie deutlich zurückgedrängt worden. Jedoch liefern sich die ukrainische und russische Armee hier Artilleriegefechte, die in den letzten Tagen an Intensität zugenommen haben.
Ukraine: Niemand weiß, wann dieser Krieg endet
Die Stellung von Alexiy liegt irgendwo zwischen Mykolajiw und dem etwa 50 Kilometer südöstlich gelegenen Cherson, das Anfang März von den Russen eingenommen wurde. Vor dem Krieg hat der 34-Jährige ein ganz normales Leben geführt, erzählt er. Frau, zwei Kinder, Arbeit, ein Auto, ein Haus, kreditfinanziert. „Ich habe mir etwas aufgebaut.“Als der Krieg begann, wurde Alexiy am ersten Tag eingezogen. Jetzt lebt er in diesem Erdloch, zu dem ein kleiner Schützengraben führt.
Es ist sein Ruheort, wenn er von ganz vorn kommt. Natürlich, sagt er, hat er Angst. „Man weiß nie, wann etwas hereinkommt. Sie schießen völlig willkürlich auf militärische und zivile Ziele.“Die Furcht wird dem jungen Mann mit den kurzen dunklen Haaren und dem Bart genommen, wenn er mit seiner Familie oder mit Freunden sprechen kann. Wie lange er bleiben muss, weiß er nicht. Niemand weiß, wann dieser Krieg endet.
Draußen blickt Sergej misstrauisch in die Luft und horcht angestrengt, als ein dumpfes Donnern ertönt. „Das sind unsere“, sagt der Mittfünfziger, ein gestandener Berufssoldat, der zu Sowjetzeiten in Moskau gedient hat. Jetzt ist er Presseoffizier. „Die Russen werden bald antworten.“Er drängt zum Aufbruch. Auf der Fahrt nach Mykolajiw macht er einen Umweg.
In einem Kornfeld liegt das Wrack eines russischen Kampfhubschraubers, der Mitte Mai abgeschossen wurde. Noch immer riecht das Wrack nach verbranntem Plastik und Kerosin. Die Überreste der Besatzung liegen unter einem Erdhügel neben einem Feldweg. Die beiden Toten sind namenlos beerdigt worden. „Warum? Wozu das alles? Das ist doch einfach nur dumm“, sagt Sergej.
Mykolajiw wirkt wie eine Stadt, die in der Sowjet-Ära stehen geblieben ist. Breite Straßen, am Stadtrand viele Wohnblocks, die auch im warmen Licht der Juni-Sonne nicht freundlicher und einladender wirken. Im Stadtzentrum sitzen in diesen Tagen viele Menschen auf den Bänken unter den Kastanien in dem kleinen Park. Kunstmaler bieten unter den Ahornbäumen am Boulevard daneben ihre Werke an. Kinder flitzen mit ihren Inlineskates umher, eine Cellistin und ein Gitarrist spielen, ein Mann mit Kastagnetten gibt den Takt vor. Es ist, als wäre der Krieg so weit weg, und doch ist er so nah.
Viele der früheren Einwohner sind geflohen. Etliche wurden im März und April bei Evakuierungsmissionen aus der Stadt herausgebracht. Im Celentano, einer modern eingerichteten Pizzeria, trägt jeder Zweite Olivgrün. Viele Restaurants sind verbrettert. Manche sind zerstört. Jeden Tag gellt in Mykolajiw der Luftalarm und warnt vor Raketenbeschuss. Bei Artilleriegeschossen ist die Vorwarnzeit zu kurz. Sie schlagen unvermittelt ein und zerfetzen Menschen.
„Die Situation ist stabil, aber sehr gefährlich“, sagt Vitaliy Kim. „Wir haben seit einer Woche jeden Tag Artilleriebeschuss. Erst heute ist ein Mensch in der Stadt gestorben, fünf wurden verletzt.“Kim ist der Gouverneur der Oblast. 41 Jahre, sportlich, er trägt Sneakers und ein TShirt, auf dem das Abbild einer Neptun-Rakete zu sehen ist, die Silhouette des im April versenkten russischen Flaggschiffs „Moskwa“und ein derbes Schimpfwort. Kim steht vor der Ruine des Gebäudes, in dem er einmal sein Büro hatte. Am 29. März schlug eine russische Iskander-Rakete in das neungeschossige Haus ein, genau in den vierten Stock, dort, wo Kims Büro lag. Jetzt klafft in dem Gebäude ein gewaltiges Loch. 37 Menschen starben bei diesem Angriff. Kim war zufällig nicht vor Ort. „Die Menschen haben sich an den Krieg gewöhnt. Sie erkennen mittlerweile jede Bombe an ihrem Geräusch, sie erkennen, ob Geschosse herausgehen oder hereinkommen. Sie sind es leid, immer in Furcht zu leben“, sagt der Gouverneur. „Aber das normale Leben geht irgendwie weiter.“
Der Beschuss auf Mykolajiw hört nicht auf
Im Sergeev-Hotel haben sich Artilleristen einquartiert. Sie berichten stolz davon, wie sie am Vortag zwei russische Pion-Kanonen zerstört haben, die gewaltige Geschosse mit 203er-Kaliber verschießen. Sie haben sie mit M777-Haubitzen außer Gefecht gesetzt, die von den USA an die Ukraine geliefert wurden. Der Beschuss auf Mykolajiw hört trotzdem nicht auf. In der Nacht heult wieder der Alarm, immer wieder grollt das dumpfe Donnern der Geschütze. Am Tag danach gehen wieder Artilleriegeschosse auf die Stadt nieder.
Auch 70 Kilometer nordöstlich nehmen die russischen Angriffe zu. In der Kleinstadt Bashdanka haben Polizisten am 7. Juni die Straße hinter der Brücke, auf der im März eine Kolonne russischer Panzerfahrzeuge zerstört wurde, mit Flatterband abgesperrt. Dahinter liegt ein Tatort. In das Verwaltungsgebäude des Distrikts sind in der Nacht zuvor vier russische Geschosse eingeschlagen, vermutlich von See abgefeuerte Kalibr-Raketen. Auch Nachbargebäude wurden schwer beschädigt. „Zwei Menschen sind gestorben, mehrere sind verletzt worden“, sagt einer der Polizisten, die aufpassen, dass sich niemand hinter dem Flatterband aufhält.
Bashdanka ist schon bei den Kämpfen im März schwer beschädigt worden, viele Häuser im Zentrum sind Ruinen. Manche Einwohner reagieren misstrauisch auf Kameras. „Was wollt ihr hier?“, herrscht ein Mann uns an. Die Befürchtung ist groß, dass Fotografen neue Ziele für die Russen ablichten.