Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
Wie besserer Schutz vor Amoktätern gelingt
Todesfahrt in Berlin, Messerangriffe in Hamm und Esslingen: Amoktaten erschüttern Deutschland. Doch Gewalt lässt sich verhindern
Stunden rang die junge Frau um ihr Leben. Ärzte operierten ihre Verletzungen, mehrfach hatte der Täter auf die 30-Jährige eingestochen. Er war in den Hörsaal der Hochschule Hamm in NordrheinWestfalen gelaufen, bewaffnet mit zwei Küchenmessern, verletzte erst drei Studenten. Die junge Frau war Lehrende an der Hochschule. Alle waren „Zufallsopfer“, so die Staatsanwaltschaft.
Die Ermittler gehen von einer „Amoktat“aus. In der Wohnung im Studentenwohnheim entdeckte die Polizei „zahlreiche Psychopharmaka“des 34 Jahre alten Tatverdächtigen. Der Mann habe sich von „einer Gruppe mit dem Leben bedroht gefühlt“, sagt ein Staatsanwalt. Doch nun ist die junge Dozentin aus Essen tot. Sie starb an ihren Schnittwunden.
Nur zwei Tage vorher: Tatort Breitscheidplatz in Berlin – ein 29Jähriger rast mit einem Renault Clio seiner Schwester in eine Menschenmenge. Februar 2020: Ein Täter fährt in einen Karnevalsumzug in Volkmarsen, verletzt mehr als 100 Menschen. Dezember 2020: Ein Mann rast im Geländewagen durch Trier, fünf Tote.
Erst im Januar 2022 stirbt eine Studentin bei einem Amoklauf an der Universität Heidelberg. Und am selben Tag wie jetzt die Tat von Hamm nimmt die Polizei einen jungen Niederländer fest, der an einer Esslinger Grundschule in BadenWürttemberg eine Frau und ein Mädchen mit einem Messer schwer verletzt haben soll.
Polizisten berichten unserer Redaktion, dass sie im Einsatz immer häufiger mit psychisch erkrankten Gewalttätern konfrontiert sind. Emanuel Schmidt, Leiter der Deutschen Justiz-Gewerkschaft und selbst Bewährungshelfer, sagt: „Wir spüren im Justizbetrieb, dass psychische Erkrankungen zunehmen.“
Britta Bannenberg ist Kriminologin an der Uni Gießen. Sie betreibt eines der wenigen profilierten Beratungsnetzwerke zur Amok-Prävention. Auch sie erzählt: „Ich erlebe in meiner Arbeit gerade eine noch nie da gewesene Welle an Meldungen. Täglich rufen bei uns zwei bis drei Menschen an, immer häufiger sind darunter Studierende.“Es ist ein besorgniserregender Trend. Für Fachleute ist klar: Die scharfen Maßnahmen zur Eindämmung der CoronaPandemie haben psychische ErSeit krankungen anwachsen lassen. Auch der Ukraine-Krieg kann einen labilen Menschen enorm belasten.
Amokläufe sind extrem selten – haben aber oft fatale Folgen
Psychisch Erkrankte sind laut Medizinern nicht häufiger gewalttätig als der Durchschnitt. Und Amokläufe sind – trotz der aktuellen Vorfälle – extrem seltene Situationen. Der Umgang damit aber ist hochbrisant: Bei einer Amoktat sterben oft mehrere Menschen, viele werden verletzt, Passanten können traumatisiert werden. Das zu schützende Gut der Sicherheit wiegt schwer.
Kriminologin Bannenberg räumt mit einem Vorurteil auf: dass man
Amoktaten nicht verhindern könne. Manche Politiker überschlagen sich mit Forderungen nach einer Aufrüstung der Polizei. Oder gleich mit Fahrverboten in Innenstädten, um Amokfahrten unmöglich zu machen. Dabei gebe es Warnsignale, sagt Bannenberg. „Amoktäter planen ihre Taten in der Regel über einen längeren Zeitraum, isolieren sich, sind Einzelgänger.“Oft kündigen sie ihre Tat indirekt an. Mache ein Mensch mit schweren psychischen Problemen auffällige Äußerungen – dann müsse man das „sehr ernst nehmen“. Das Gesamtbild einer möglicherweise gefährlichen Person, die eine Amoktat plane, sei oft ein deutliches Warnsignal.
vielen Jahren forscht Bannenberg zu Amoktaten. Ihr Beratungsnetzwerk gilt als vorbildhaft für die Sicherheitsbehörden. In einem aktuellen Aufsatz für die Fachzeitschrift „Kriminalist“skizziert sie Täterprofile erwachsener Amoktäter: „männlich, häufiger deutsch ohne Migrationshintergrund,
sozial auffällig im Sinne von querulatorisch, unangenehm im Umgang, Einzelgänger, Sonderling“. In einigen Fällen sei der Amokläufer an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt. Häufiger liege keine psychische Störung zugrunde, dafür gebe es „paranoide“und „narzisstische“Persönlichkeitsstörungen.
Groll und Wut könne sich in Tötungsfantasien wandeln. Oftmals lösen Berichte über Amoktaten etwas bei potenziellen Tätern aus, können sie „triggern“. Auch politische Ereignisse, Kriege, Konflikte können Tatendrang bestärken.
Doch Bannenbergs Analyse zeigt auch: Nicht Ermittler sind der beste Schutz vor Amok. Es ist das Umfeld eines potenziellen Täters, Bekannte, Familie, Nachbarn, Kommilitonen, Mitschüler. Ähnlich sieht es Bewährungshelfer Schmidt: „Die Menschen wandern in die Großstädte ab, der Alltag ist zunehmend anonymisiert. Da geht diese wichtige Kontrolle aus dem sozialen Umfeld verloren. Das ist ein Risikofaktor für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Darauf hat die Politik
bisher zu wenig reagiert.“
Bisher gibt es neben Bannenbergs Netzwerk einzelne Pilotprojekte. In Nordrhein-Westfalen endete gerade die Testphase von „PeRiskoP“, einer Risikobewertung von Einzelfällen durch Kriminalpolizisten. 66 verdächtige Personen habe die Polizei in einem Jahr überprüft, sie analysierte die Psyche des Menschen, seine Affinität zu Gewalt, mögliche Ankündigungen von Taten. Darunter etwa ein junger Mann, der wiederholt Bücher zum Thema „Amok“ausgeliehen habe. „Im Internet hatte er zudem Amoktaten angedroht“, schreibt die Polizei NRW. Der Mann kam schließlich in Behandlung, sei „stabilisiert“worden.
In Bayern gibt es ein erstes Modell für eine Präventionsambulanz für potenzielle Amoktäter. In Ansbach kümmern sich Fachärzte, Psychologen, Sozialpädagogen und Pflegekräfte um die wenigen, aber gravierenden Fälle, in denen psychisch Erkrankte ein „Risikoprofil“entwickeln. Das Ziel: Menschen aus ihrem Wahn holen, ihre Gedankenspiralen unterbrechen. Und so: Gewalttaten verhindern. Es sind Projekte, die zeigen, dass Deutschland durchaus Erfolge im Kampf gegen Amoktaten hat. Viele Taten konnten verhindert werden. Und doch fehlt es an Therapieplätzen, an Klinikbetten, an Fachleuten.
Der Täter von Hamm war der Polizei schon im April aufgefallen. Er hat laut Ermittlern Anzeige erstattet, weil er sich verfolgt gefühlt habe. Und nur zwei Tage vor der Messerattacke soll der Mann einen Suizidversuch unternommen haben und kam in eine psychiatrische Klinik. Am Freitagmittag habe er sich dort selbst entlassen, heißt es. Warnsignale für die Amoktat hatte es gegeben, offenbar. Sie wurden sogar gehört. Doch das Frühwarnsystem aus Umfeld, Polizei und Klinik hat die Tat nicht verhindert. Die Ermittlungen dauern an.
Anmerkung der Redaktion: Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich helfen lassen. Sie erreichen die Telefonseelsorge unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222, auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.