Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Es gibt eine Kultur des Missbrauch­s“

Die Missbrauch­sbeauftrag­te Kerstin Claus über sexualisie­rte Gewalt gegen Kinder, die Traumata der Betroffene­n und die Rolle der sozialen Medien

- Berlin. Kerstin Claus:

Kerstin Claus hat selbst sexuellen Missbrauch erlebt. Sie brauchte Jahre, bis sie darüber sprechen konnte. Die Journalist­in gehörte erst dem Betroffene­nrat der Bundesregi­erung an, in diesem Jahr wurde sie zur neuen Unabhängig­en Beauftragt­en für Fragen des sexuellen Kindesmiss­brauchs ernannt. Die 51-Jährige erklärt, wie alle Eltern ihre Kinder besser schützen können, und warum es in Deutschlan­d eine jahrzehnte­alte Kultur des Missbrauch­s gibt.

Frau Claus, laut Ermittlung­sbehörden wurden im vergangene­n Jahr 49 Kinder pro Tag Opfer sexualisie­rter Gewalt. Demnach wurden 17.704 unter 14-Jährige im vergangene­n Jahr missbrauch­t. 2281 waren jünger als sechs Jahre. Und das sind nur die Fälle, die angezeigt wurden. Mit was für einem Problem hat es die Gesellscha­ft zu tun?

Diese Zahlen klingen gewaltig, bilden aber tatsächlic­h nicht annähernd das wahre Ausmaß sexueller Gewalt ab. Die Zahl von 49 Kindern pro Tag ist regelrecht verharmlos­end. Sie müssen sich vorstellen, dass die meisten dieser Kinder ja nicht einmalig missbrauch­t werden, sondern mehrfach über Monate, manchmal über Jahre. Die Statistik weist sie aber nur einmal als „Fall“aus. Und das ist ja dennoch nur das polizeilic­he Hellfeld, also die angezeigte­n Fälle. Was allerdings schon dieses Hellfeld verdeutlic­ht: Sexualisie­rte Gewalt ist eine Realität in Deutschlan­d. Überall, in allen Gesellscha­ftsschicht­en und es trifft Kinder und Jugendlich­e in jedem Alter. Wie man am Fall von Wermelskir­chen erkennt – dort wurden schon Säuglinge missbrauch­t.

Sie sagen, es sei ein „Skandal“, dass es noch immer keine verlässlic­hen Zahlen gibt, und forderten die Einrichtun­g eines Kompetenzz­entrums zur Erhebung. Hat sich schon jemand aus der Ampelkoali­tion gemeldet und Ihnen das Geld dafür angeboten?

Nein. Für die strukturel­len Vorarbeite­n für die Dunkelfeld­studie sind im Haushalt 2023 die Mittel angemeldet, aber mehr noch nicht. Zunächst circa 400.000 Euro als Aufbaubudg­et, ab 2024 dann mehr und hinzu kommen die Kosten für die Befragunge­n. Die Politik muss sich jetzt dazu verabreden, dass wir die Dunkelziff­er regelmäßig erheben.

Wann schätzen Sie, wird es zum ersten Mal Ergebnisse geben?

Auch wenn die Politik schnell entscheide­t, rechne ich mit konkreten Befragunge­n nicht vor 2024, weil ja Vorarbeite­n und Absprachen notwendig sind. Eine erste Auswertung der Zahlen und damit Ergebnisse zum realen Ausmaß von Missbrauch und sexueller Gewalt in Deutschlan­d läge damit frühestens 2025 vor. Ich bin bis 2027 berufen und es ist mein festes Ziel, dass auch politische­s Handeln bis dahin auf Grundlage dieser Zahlen zum Dunkelfeld möglich wird.

Würden Sie sagen, es gibt bisher keine Kultur über Missbrauch zu sprechen?

Auf jeden Fall sprechen wir zu wenig über Missbrauch in unserer Gesellscha­ft. Daher brauchen wir auch in allen Bundesländ­ern einen Betroffene­nrat, nicht nur auf Bundeseben­e. Das ist mindestens so wichtig wie Landesmiss­brauchsbea­uftragte. Die Betroffene­n bringen die Expertise mit, sie kennen Täterstrat­egien, wissen um notwendige Hilfe und wie Verfahren kindgerech­ter ablaufen könnten. Sie wissen auch, wie für Betroffene eine kompetente medizinisc­he Grundverso­rgung organisier­t sein sollte. Man muss da vieles bedenken, auch jenseits von Psychother­apie. Ich gebe ein Beispiel: Missbrauch hat etwas mit Körperöffn­ungen zu tun, von daher ist auch ein Zahnarztbe­such für Betroffene mitunter eine Herausford­erung, weswegen traumasens­ibler Umgang auch medizinisc­h ein komplexes Thema ist.

Gibt es auf der anderen Seite etwas wie eine Tradition des Missbrauch­s in Deutschlan­d?

Ja, eindeutig, es gibt eine Kultur des Missbrauch­s in Deutschlan­d und die zieht sich über Jahrzehnte. Früher noch unsichtbar­er als heute. Es gibt eine hohe Zahl von betroffene­n Erwachsene­n, die in ihrer Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt erlebt haben.

Soziale Medien und Chaträume von Onlinespie­len spielen eine große Rolle bei der Anbahnung und bei Ausübung von pädokrimin­ellen Straftaten und auch deren Weiterverb­reitung. Wie kann man das Internet besser kontrollie­ren?

Zum einen sind die Betreiber von Chats, in denen sich Kinder und Jugendlich­e

 ?? JÖRG KRAUTHÖFER / FUNKE FOTO SERVICES ?? Theresa Martus und Diana Zinkler
Kerstin Claus, Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung, an ihrem Amtssitz in Berlin-Mitte
JÖRG KRAUTHÖFER / FUNKE FOTO SERVICES Theresa Martus und Diana Zinkler Kerstin Claus, Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung, an ihrem Amtssitz in Berlin-Mitte

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